Süddeutsche Zeitung

Medizin:Termin in vier Wochen

Volle Wartezimmer, viel Hektik, keine Zeit: Die Kinderärzte in Deutschland arbeiten am Limit. Helfen könnte mehr Teamarbeit - und das Internet.

Kommentar von Nina von Hardenberg

Kinderärzte sind heute nur noch selten Heiler, die ans Bett schwer kranker Kindes gerufen werden. Lebensbedrohliche Krankheiten gibt es hierzulande dank Impfungen und moderner Medizin kaum noch. Stattdessen haben Pädiater und Pädiaterinnen viele neue Rollen bekommen: Sie sind Dienstleister, die dem Kind vorm Urlaub noch mal schnell ins Ohr schauen. Sie sind Kontrolleure, die dem berufstätigen Vater attestieren, dass das fiebernde Baby ihn jetzt braucht. Sie sind Seelsorger und Großelternersatz, hören verunsicherten Eltern zu und geben Rat. Und sie sind Protokollanten der Entwicklung von Kindern.

Gerade letztere Aufgabe ist wichtig - schließlich kann durch vorausschauende Beobachtung manch eine schwere Krankheit abgewendet werden. Die Vorsorgeuntersuchungen wurden aber so ausgeweitet, dass Kinderärzte allein für sie und für Impfungen fast ein Drittel ihrer Praxiszeit aufwenden. Die regelmäßige Vorsorge, für die Ärztinnen und Ärzte selbst lange gekämpft haben, ist jetzt für manche Praxen kaum noch zu stemmen - das zeigen die Wartezeiten.

Eltern in der Großstadt müssen langfristig planen, wenn sie ihre Kinder fristgerecht impfen und zu den empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen bringen wollen. Ein seit fünf Jahren anhaltender Geburtenboom bringt die Ärzte zusätzlich in Bedrängnis, sodass der Berufsverband warnt: Die Kinderärzte arbeiteten "am Limit".

Muss man wegen jeder erhöhten Temperatur, wegen jeder Rotznase gleich zum Arzt? Natürlich nicht. Trotzdem hilft es hier nicht wirklich weiter, Eltern einfach ein bisschen mehr Gelassenheit zu empfehlen. Denn der Zugang zur ärztlichen Versorgung ist nun mal ein wichtiger Pfeiler der sozialen Gerechtigkeit. Je schwieriger es ist, einen Termin zu bekommen, desto höher werden die Hürden. Heißt automatisch, dass einige Kinder durchs Netz fallen. Das aber trifft fast immer Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Sie werden von Ärztinnen und Ärzten sowieso schlechter erreicht, obwohl sie ihre Fürsorge am meisten benötigen: Vier von fünf von ihnen sind übergewichtig. Mehr als die Hälfte dieser Kinder haben Zahnprobleme, bei Kindern aus bessergestellten Familien sind es knapp über 20 Prozent. Ein Vorsorge­system, das nicht alle Kinder gleichermaßen erreicht, verliert seinen Sinn.

Deswegen fordern Kinderärzte zu Recht neue Kassensitze. Hier tut sich schon einiges: In Hamburg soll es bald vier, in Berlin acht neue Kinderarztsitze geben. Das ist ein Signal, dem andere Regionen folgen könnten. Die Vertreter von Krankenkasse und Ärzteschaft haben sich in beiden Städten unbürokratisch über die Mathematik hinweggesetzt. Rein rechnerisch ergibt sich nämlich für beide Städte wie für weite Teile Deutschlands nicht etwa Not, sondern Überversorgung: Seit 2009 ist die Zahl der Kinderarztsitze in Deutschland um 300 Zulassungen gestiegen - auf zuletzt 6700.

Dass die Ärzte trotzdem überlastet sind, hat zwei Gründe: Zum einen haben sie mit ihren Patienten mehr Arbeit. Bei ihrer Einführung 1971 gab es acht Vorsorgeuntersuchungen (U1-U8), inzwischen sind es 14. Die Zahl der empfohlenen Impfungen hat sich in drei Jahrzehnten fast verdoppelt.

Gleichzeitig wollen nur die wenigsten Kinderärztinnen und -ärzte - der Frauenanteil liegt bei mehr als 80 Prozent - so arbeiten wie die Vorgängergeneration. Der selbstständige Einzelkämpfer-Arzt, Alleinherrscher seiner Praxis, immer erreichbar und immer im Dienst seiner Patienten unterwegs, ist für die junge Ärztegeneration kein Rollenmodell mehr.

Familie und Freizeit sind wichtiger geworden. Viele Ärzte lassen sich heute lieber anstellen, als selbst eine Praxis zu führen. Angestellte Kinderärzte arbeiten aber nur etwa halb so viele Stunden auf der gleichen Zulassung wie selbststän­dige Ärzte. Sie dürfen schon rein arbeitsrechtlich nicht rund um die Uhr alles geben.

Neue Arztsitze allein können die aktuelle Not also nicht lindern. Die Praxen müssen anders arbeiten können. Viele Ärzte wollen im Team arbeiten, es werden also in Zukunft auf jeden Fall mehr Gemeinschaftspraxen oder Versorgungszentren entstehen. In solchen großen Einheiten könnten Ärzte ihre Aufgaben anders und besser organisieren und sich wieder mehr auf die Patienten konzentrieren, die wirklich ihre Hilfe brauchen.

Schon heute impfen einige Ärzte nicht mehr selbst. Auch die vielen Vorsorgeuntersuchungen könnten teilweise delegiert werden: In den USA etwa übernehmen akademisch ausgebildete Krankenschwestern, sogenannte Pediatric Nurse Practitioners, diese Arbeit. Warum sollten sich Gemeinschaftspraxen nicht eine speziell ausgebildete Schwester teilen, die ihnen beisteht? Pilotprojekte dafür gibt es in der hausärztlichen Versorgung bereits.

Große Praxen könnten zudem einem Teil der Eltern mit Online-Sprechstunden helfen, wie sie gerade in Baden-Württemberg getestet werden: Um zu beantworten, ob das Kind nach einem Zeckenbiss direkt zum Arzt muss (wenn Zecke gut rausging: nein, aber beobachten), ob ein leichtes Fieber bei einem Vierjährigen bedrohlich ist (nein) oder was bei Durchfall wichtig ist (trinken), muss der Arzt den Patienten nicht unbedingt gesehen haben. Bislang füllen Eltern mit solchen Fragen die Praxen.

Kinderärzte wären dann vielleicht wieder weniger Protokollant und mehr Heiler. Und genau das sollten sie auch sein. Denn bei allem medizinischen Fortschritt ist das Heilen heute nicht weniger anspruchsvoll als früher - die Erkrankungen sind einfach andere. Die Ärzte sehen immer häufiger Kinder mit auffälligem Verhalten, Entwicklungs- oder Sprachproblemen - Störungen also, die auch im sozialen Umfeld begründet sein können. Diesen Kindern nutzt Medizin allein nichts, wer ihnen helfen will, muss Einfluss auf ihre ganze Lebenswelt nehmen: Eine gut ausgestattete Kita kann die Sprachentwicklung beflügeln. Werden die Limo-Auto­maten in einer Schule durch Wasserspender ersetzt, nehmen Kinder weniger Zucker zu sich.

Die Kinderärztin und der Kinderarzt der Zukunft werden darum auch Kinderanwälte sein, Netzwerker, die sich mit Eltern, Lehrern und Erziehern verbünden. Viele sind es schon heute. Sie kämpfen für ein Grundrecht: Kinder haben einen Anspruch auf ein Höchstmaß an Gesundheit, so steht es in der UN-Kinderrechtskonvention. Damit das für alle gilt, brauchen sie Zugang zu Ärzten. Und die Ärzte selbst brauchen Zeit für sie.

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