Medizin:Pharmagesetz entzieht Patienten Epilepsie-Medikament

  • Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes soll verhindern, dass Präparate ohne Zusatznutzen auf den Markt kommen.
  • Im Fall der Epilepsie verhindert das Gesetz jedoch ein Medikament, von dem viele profitieren könnten.
  • Ärzte und Patienten fordern, die Regelung zu überdenken.

Von Christina Berndt und Kim Björn Becker

Es ist ein sperriger Begriff, um den die Fachleute da seit Monaten streiten: Zusatznutzen? Die Diskussion ist für Mireille Schauer und ihre Tochter Hannah lebensfremd. Für sie besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass es diesen Nutzen gibt und dass er - jedenfalls in ihrem Fall - erheblich ist: Unermesslich wertvoll scheint ein neuartiges Epilepsie-Medikament für Hannah. "Seit unsere Tochter Fycompa bekommt, hat sie kaum noch Anfälle", sagt Mireille Schauer.

Vorher erlitt die Achtjährige jeden Tag rund 300 davon. Die Krankheit war mit keinem der verfügbaren Epilepsie-Medikamente zu beherrschen. Immer wieder brach das Kind zusammen, zuckte und verlor die Kontrolle über seinen Körper. Immer wieder hatten die Eltern Angst, Hannah könnte an den Folgen sterben - bis ihr Arzt es vor einem halben Jahr mit dem neuen Präparat versuchte. "Die eineinhalb Jahre zuvor lag sie nur noch auf der Couch oder im Krankenhaus", erzählt die Mutter, "nun kann Hannah wieder Fahrrad fahren und sogar schwimmen. Es ist ein völlig neues Leben."

Doch eine Unsicherheit bleibt: Wie lange werden die Schauers ihrer Tochter noch das Leben mit dem neuen Medikament ermöglichen können? Der japanische Pharmakonzern Eisai, Entwickler von Fycompa, hat das Medikament im Juni 2013 in Deutschland "außer Vertrieb" gestellt. Zu bekommen ist es für Patienten nur auf einen speziellen Antrag hin - ebenso wie ein weiteres neuartiges Epilepsie-Medikament: Trobalt mit dem Wirkstoff Retigabin von der britischen Firma Glaxo-Smith-Kline.

Der Grund für den Rückzug vom Markt: Den beiden Pharmafirmen ist der Verkauf ihrer Präparate in Deutschland nicht mehr lukrativ genug. Denn ein für die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen entscheidendes Gremium, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), sprach beiden Arzneien im Vergleich zu älteren Epilepsie-Medikamenten einen Zusatznutzen ab. Und seit das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (Amnog) 2011 in Kraft getreten ist, gilt: Wenn ein Medikament nicht mehr nützt als ein älteres, dann darf es auch nicht mehr kosten.

Bereits 36 000 Menschen haben die Petition für das neue Medikament unterschrieben

Vielerorts verlangen Patienten derzeit den unkomplizierten Zugang zu den neuen Epilepsie-Medikamenten. Sie klagen allerdings nicht die Pharmafirmen an, sondern den Gesetzgeber. Mit einer Petition an den Bundestag fordern Patientenvertreter eine Reform des Amnog. Etwa 200 000 der 800 000 Menschen mit Epilepsie in Deutschland erlangten "mit den zurzeit verfügbaren Arzneimitteln keine Anfallsfreiheit", heißt es in der Petition, die der Bundeselternverband Epilepsie und der Landesverband Epilepsie Bayern initiiert haben. "Für diese Patienten werden dringend neue Medikamente benötigt." Das Amnog tauge im Fall der Epilepsie nichts. Der Nutzen der Medikamente, wie ihn Hannah und viele andere Patienten erleben, lasse sich in Studien nicht gut erfassen. "Hätten die heute geltenden Regelungen bereits vor zwanzig Jahren gegolten, wäre seitdem kein einziges Medikament gegen Epilepsie mehr eingeführt worden", heißt es in der Petition, die 36 000 Menschen unterzeichnet haben und über die jetzt der Petitionsausschuss des Bundestages entscheiden muss.

Auch viele Mediziner unterstützen die Patientenvertreter. "Uns treibt die große Sorge um, dass die Versorgung mit Epilepsie-Medikamenten ein Problem in Deutschland wird", sagt Holger Lerche, Professor für Neurologie am Universitätsklinikum Tübingen. Das Amnog könne zu einer "Innovationsbremse" werden. Im Einsatz für ihre Patienten beschreiten manche Fachleute auch ungewöhnliche Wege: Der Epilepsie-Experte Christian Elger von der Universitätsklinik in Bonn und Heinz Beck, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie, haben mit Hilfe von Spenden - die ausdrücklich nicht von der Pharmaindustrie stammten, wie sie sagen - einen Film ins Internet gestellt, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Darin bitten sie ihre Patienten sogar ausdrücklich um Verzeihung, weil sie es nicht geschafft haben, "die Behörden davon zu überzeugen, dass das Medikament einen eindeutigen Zusatznutzen hat".

"Das tue ich für die Patienten"

Es sei der Punkt erreicht, "wo in den Köpfen der Entscheider endlich der Knoten platzen muss", begründet Christian Elger sein ungewöhnliches Engagement. Er bekomme mitunter Honorare von Eisai - aber für Vorträge und Forschungsarbeiten, nicht für seinen politischen Einsatz für Fycompa. "Das tue ich für die Patienten", sagt der Arzt, "denn rund 15 Prozent der Epilepsie-Kranken, die seit Jahren auf keine andere Therapie reagieren, profitieren von Fycompa." Diese Zahl ergebe sich aus einer eigenen, nicht pharmafinanzierten Studie, die demnächst veröffentlicht werde. Rund 20 000 Menschen in Deutschland könnten auf diese Weise anfallsfrei werden. "Das ist doch ein enormer Zusatznutzen."

Zu einem ähnlichen Schluss ist auch Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor des Epilepsiezentrums Kork, in einer Studie mit seinen Patienten gekommen. 15 Prozent seiner zuvor schwer therapieresistenten Patienten seien mit Fycompa anfallsfrei geworden, sagt er. "Wenn Sie diesen Menschen gegenübersitzen und ihnen erzählen, dass das Medikament keinen Zusatznutzen hat, sollten Sie deren Gesichter mal sehen. Ich bin weiß Gott nicht einverstanden mit so manchen Praktiken der Pharmaindustrie, aber dass hier die Patienten die Verlierer sind, ist für mich nicht einzusehen und macht mich selbst krank."

Die Idee, die dem Amnog zugrunde liegt, sei an sich sinnvoll, sagen Experten. Das Gesetz verlangt, dass Hersteller einen Zusatznutzen für neue Medikamente nachweisen, wenn sie diese teuer verkaufen wollen. Pharmafirmen, so die Idee, sollen weniger davon profitieren, wenn sie das hundertste Mittel gegen Bluthochdruck auf den Markt bringen, das auch nicht mehr nützt als die 99 davor. Belohnt werden sollen dagegen echte Innovationen und Verbesserungen.

"Bei Medikamenten gegen Epilepsie funktioniert das aber nicht so einfach", sagt Holger Lerche. Die Krankheit habe so unterschiedliche Gesichter. Womöglich verbergen sich sogar zahlreiche verschiedene Erkrankungen dahinter. Denn Patienten sprechen höchst unterschiedlich auf die verschiedenen Medikamente an. Wenn ein neues Medikament im Vergleich zu anderen Mitteln getestet wird, werden deshalb vielleicht nicht mehr Patienten anfallsfrei; auf den ersten Blick hat das neue Mittel also keinen Zusatznutzen. Aber es profitieren andere Patienten, die bisher nicht behandelbar waren.

"Immerhin geht es bei der Epilepsie manchmal um Leben und Tod"

"Wir haben immer wieder Patienten, bei denen wir jahrelang vergeblich eine Therapie versucht haben. Das fünfte oder sechste Medikament wirkt dann plötzlich", sagt Lerche. "Deshalb brauchen wir möglichst viele verschiedene Möglichkeiten" - auch wenn die neuen Medikamente gewiss keine Allheilmittel sind. Im Fall von Trobalt gab es Mitte 2013 sogar eine Einschränkung der Zulassung, weil das Medikament die Netzhaut verändert; deshalb spielt das Medikament in der Praxis ohnehin kaum noch eine Rolle. Fycompa zeigt ähnliche Nebenwirkungen wie viele andere Epilepsie-Medikamente, darunter auch Schwindel und Sehstörungen. Dennoch seien Fycompa und Trobalt echte Innovationen, sagt Lerche. Denn die Medikamente wirken auf ganz neuen und unterschiedlichen Wegen auf die Signalübertragung im Gehirn. Für die Patienten, bei denen die Mittel wirken, sei der Nutzen enorm, versichert der Neurologe: "Immerhin geht es bei dieser Krankheit manchmal um Leben und Tod und immer um den Führerschein und den Arbeitsplatz."

Eine mögliche Benachteiligung von Patienten streitet das Ministerium ab

Epilepsie ist eine schwerwiegende Krankheit, sie beeinflusst das ganze Leben der Patienten. Lange vorbei ist die Zeit, da das Anfallsleiden als "heilige Krankheit" galt. Heute werden Menschen mit Epilepsie schräg angeguckt, wenn sie zucken oder gar zusammenbrechen. Das Stigma ist groß - und die sozialen Folgen ebenfalls. Denn Menschen mit einer unbeherrschten Epilepsie können kaum noch am Straßenverkehr teilnehmen oder in einem verantwortungsvollen Beruf arbeiten.

Vor diesem Hintergrund kann Susanne Fey, die Vorsitzende des Elternverbands, die Entscheidung des G-BA nicht verstehen. "Ohne Medikamente gibt es ständige Notarzteinsätze, Krankenhausaufenthalte, Arbeitslosigkeit und Frühberentung - das ist viel teurer als jede Therapie", sagt Fey, die ihren an Epilepsie erkrankten Sohn im Alter von 21 Jahren verloren hat. Jahrelang litt der junge Mann an der Krankheit, gegen die keines der verfügbaren Medikamente half. Eines Nachts starb er plötzlich und unerwartet, wie dies infolge der Epilepsie immer wieder geschieht, ohne dass es eine Erklärung dafür gäbe. Fachleute sprechen von einem SUDEP, einem "sudden unexpected death in epilepsy". "Wir haben ein Recht darauf, so etwas zu vermeiden", sagt Fey.

Trotz des Protestes von Patienten und Ärzten hält der G-BA an seiner Bewertung fest. Die Pharmafirmen hätten nun einmal nicht die geforderten Studien vorgelegt, heißt es aus der Geschäftsstelle. Die Firma Eisai etwa hat ihr Fycompa nur gegen Placebo getestet - und eben nicht im Vergleich mit anderen Wirkstoffen, obwohl der G-BA dies im Vorfeld eindeutig gefordert hatte. Auch das Bundesgesundheitsministerium stellt sich hinter den ablehnenden Beschluss. Es komme "weder zu einer Gefährdung der Versorgung von Epilepsie-Patienten noch zu einer systematischen Benachteiligung deutscher Patienten gegenüber anderen Betroffenen in Europa", sagte eine Ministeriumssprecherin. Außerdem sei den Medikamenten keineswegs die Zulassung entzogen worden - die Firmen könnten sie ja verkaufen, nur eben nicht zu dem Preis, der ihnen vorschwebt.

Die Beschreibung von Einzelfällen reiche nicht aus, argumentieren Verteidiger des Amnog

Der ist allerdings empfindlich gedrückt worden: Ursprünglich verlangten die Firmen rund 3500 Euro im Jahr für die Behandlung eines Patienten. Nach der G-BA-Entscheidung dürfen sie die Mittel nur noch zum niedrigen Preis des billigsten Vergleichsmedikaments abgeben. Dies entspricht 100 bis 200 Euro pro Jahr. Da stellt Eisai bedürftigen Patienten wie Hannah ihr Medikament lieber kostenlos als "Individualimport" zur Verfügung - "um die Versorgung der Patienten sicherzustellen", wie die Firma betont. Die Frage, ob sie keine ethische Verpflichtung darin sehe, ihr Medikament zum niedrigen Fixpreis auf dem deutschen Markt zu belassen, beantwortet Eisai nicht.

Dass nur Medikamente mit einem Zusatznutzen teurer verkauft werden dürfen als bisherige Medikamente, habe seinen Sinn, betont Gerd Antes, der als Leiter des Cochrane-Zentrums in Freiburg ein Verfechter einer wissenschaftlichen, in Studien überprüfbaren Medizin ist. "Wer einen Zusatznutzen belegen will, muss nun einmal die Studien so konzipieren, dass dieser Zusatznutzen auch belegt ist", sagt Antes. "Das ist nicht immer einfach, aber machbar." Ohne ausreichende Belege für eine Krankheit einen Sonderstatus zu generieren und die bestehenden Regeln für die Erstattung außer Kraft zu setzen, würde das Amnog als ein sinnvolles Instrument torpedieren. "Letztlich laufen wir dann Gefahr, das ganze System zum Einsturz zu bringen", sagt Antes. "Man muss sich schließlich immer vergegenwärtigen: Fehlende Daten bedeuten auch, dass es zu wenige Informationen über Nebenwirkungen und über das Verhältnis von Nutzen und Schaden gibt. Und die Beschreibung von Einzelfällen kann diese Information nicht zuverlässig liefern."

In den Augen der Patientenvertreter ist die aktuelle Situation trotz allem unhaltbar - nicht nur weil sich Familien wie die von Hannah stets fragen, wie lange sie Fycompa noch bekommen. "Der bürokratische Aufwand ist zudem sehr hoch", beklagt Susanne Fey. Als wäre das Leben mit Anfällen nicht schon schwierig genug: Kranke und Angehörige sind pausenlos in Sorge, der Alltag ist endlos kompliziert, nachts ist oft ständige Aufmerksamkeit gefragt, damit die Krankheit dem Patienten nicht plötzlich das Leben nimmt. "Wenn man sich schon mit einer so schwerwiegenden Erkrankung herumschlägt", so Fey, "braucht man die Sorgen um die Medikamente wirklich nicht auch noch".

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