Medizin:Seltener Nutzen für seltene Leiden

Medizin: Der Begriff "seltene Krankheiten" klingt nach einem Nischenphänomen, doch allein in Deutschland leben rund vier Millionen Menschen damit.

Der Begriff "seltene Krankheiten" klingt nach einem Nischenphänomen, doch allein in Deutschland leben rund vier Millionen Menschen damit.

(Foto: Christoph Soeder/dpa)

Medikamenten gegen seltene Erkrankungen wird mit der Zulassung ein Zusatznutzen attestiert - ohne aufwendige Prüfung. Gerechtfertigt ist dieses Privileg oftmals nicht.

Von Werner Bartens

Die Konstruktion ist originell und war als Zuckerl für die Pharmaindustrie gedacht. Da es wirtschaftlich riskant ist, Medikamente zur Therapie seltener Erkrankungen zu entwickeln, wurde der Anreiz erhöht: Im Jahr 2011 fiel für diese Mittel die für andere Medikamente übliche Nutzenbewertung weg. Mit der Zulassung der "Orphan Drugs" (von englisch orphan, "die Waise") auf europäischer Ebene wurde fortan automatisch ein "Zusatznutzen" im Vergleich zu den bisher verfügbaren Medikamenten angenommen - ohne dass entsprechende Daten oder Vergleichsstudien vorgelegt werden mussten. Erst wenn das Arzneimittel den Jahresumsatz von 50 Millionen Euro überschreitet, wird eine reguläre Nutzenbewertung nötig. Dazu erstellt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Gutachten, und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entscheidet auf dieser Basis, ob überhaupt ein Nutzen vorliegt und wenn ja, in welchem Ausmaß.

Nun zeigt eine Analyse des IQWiG, dass sich der bei Marktzugang angenommene "fiktive" Zusatznutzen der Orphan Drugs in mehr als der Hälfte der Fälle nicht bestätigt. Das Kölner Institut hat für alle Orphan Drugs, die seit 2011 ein reguläres Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen haben, weil sie die Umsatzgrenze erreicht haben, ausgewertet, ob der Zusatznutzen tatsächlich gegeben war.

Insgesamt 41 Bewertungen wurden untersucht, für die seit 2011 die Einstufung als Orphan Drug erfolgte - sowie später eine reguläre Nutzenbewertung. Diese 41 Bewertungen verteilen sich auf 20 Orphan-Drug-Wirkstoffe, da einige Arzneimittel für mehrere Anwendungsgebiete zugelassen wurden. Darunter waren Medikamente gegen Krebs, Stoffwechselleiden und Erbkrankheiten wie Mukoviszidose. Bei 22 Bewertungen - das entspricht 54 Prozent - zeigte sich in der regulären Nutzenbewertung, dass sich der mit der Zulassung attestierte Zusatznutzen aus den bisherigen Daten gar nicht ableiten ließ.

"Dies hat Folgen für die Qualität der Patientenversorgung", sagt Thomas Kaiser, der im IQWiG die Arzneimittelbewertung leitet. "Neue Arzneimittel werden in diesen Fällen ohne Datengrundlage bevorzugt eingesetzt. Patientinnen und Patienten setzen dann viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel, für das erst Jahre später klar wird, dass es keinen Nachweis dafür gibt, dass es einer vorhandenen Therapieoption überlegen ist."

Die Auswertungen des IQWiG zeigen zudem, dass das vorab verliehene Privileg des Zusatznutzens oft erst nach Jahren - oder gar nicht - korrigiert wird: Bis es wegen der Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro doch zur Nutzenbewertung kam, vergingen im Mittel drei Jahre - in einigen Fällen dauerte es neun Jahre. In 66 Prozent der Fälle legten die Pharmaunternehmen in dieser Zeit auch keine neuen Daten vor, um den angeblichen Nutzen zu untermauern. Und teilweise wurde das Prädikat des Zusatznutzens gar nicht zurückgenommen, weil das Arzneimittel nicht den Umsatz erreichte und es nie zur regulären Nutzenbewertung kam.

Die Gesamtzahl der Betroffenen ist hoch, auch wenn die einzelnen Krankheiten wenig bekannt sind

Um die Schieflage zu beenden, sei die Politik gefordert: "Es ist Zeit, das Privileg des Zusatznutzens für Orphan Drugs abzuschaffen", sagt Jürgen Windeler, Chef des IQWiG. "Auch Arzneimittel gegen seltene Leiden sollten bei Markteintritt eine reguläre frühe Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durchlaufen." Schließlich habe die 98-seitige IQWiG-Analyse "eine Fehlsteuerung bei Orphan Drugs" belegt. Es ginge nicht, dass in gut der Hälfte der Fälle der konstatierte Zusatznutzen nicht bestätigt wird und andererseits Orphan Drugs, die einen echten Mehrwert darstellen, nicht von Beginn an als solche erkannt werden. "So bleiben Arzneimittel in der Versorgung und privilegiert, von denen man nicht weiß, ob sie einen Zusatznutzen haben", beklagt Windeler. "Wir wissen dann nicht, welche gut sind und welche schlecht -, und andere bewährte Mittel, die schon auf dem Markt sind, werden durch die Zulassung der Orphan Drugs diskreditiert und zurückgestellt."

Auch wenn sich der Begriff "seltene Krankheiten" nach einem Nischenphänomen anhört, ist die Dimension erheblich. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10 000 Menschen davon betroffen sind. Hochgerechnet auf die knapp 450 Millionen Einwohner der EU wären das bis zu 225 000 Betroffene pro Krankheit, in Deutschland bis zu 40 000. Da es aber mehr als 6000 verschiedene "seltene Erkrankungen" gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen hoch, auch wenn die einzelnen Erkrankungen nicht so bekannt sind. Allein in Deutschland leben dem Gesundheitsministerium zufolge schätzungsweise vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung, in der EU bis zu 30 Millionen.

Angesichts solcher Dimensionen wirkt sich die Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs nicht nur nachteilig auf die Patientenversorgung aus, sondern auch auf die Ausgaben für Arzneimittel. Orphan Drugs für seltene Krebsarten sind wesentliche Kostentreiber der gesetzlichen Krankenversicherung. Für Mittel, die Patienten echten Zusatznutzen bringen, mögen die Preise berechtigt sein - für jene ohne Zusatznutzen nicht. "Hier sorgfältig zu differenzieren ist also aus mehreren Gründen überfällig", sagt Windeler.

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