Süddeutsche Zeitung

Medizin:"Man kann viel mehr Menschenversuche machen"

Mediziner infizieren Freiwillige gezielt mit Malaria, Salmonellen oder sogar Cholera. Die "Challenges" sollen neue Impfstoffe ermöglichen, sind aber nicht ohne Risiko.

Von Kai Kupferschmidt

Peter Kremsner benutzt keine Mücken, um Menschen mit Malaria zu infizieren. Der Arzt spritzt ihnen die Erreger direkt ins Blut. 3200 der winzigen Einzeller reichen, um das Tropenfieber auszulösen. Die Sporozoiten, so heißen die Erreger in diesem Stadium, werden vom Blut zur Leber getragen, dringen in Zellen ein, reifen heran und vermehren sich. Etwa eine Woche nach der Infektion gelangt der Parasit wieder ins Blut, dann in Form von Merozoiten. Zehntausende von ihnen befallen rote Blutkörperchen, vermehren sich weiter, platzen heraus und befallen neue Blutkörperchen. Nach drei dieser Zyklen haben sich die Erreger so weit vermehrt, dass die Fieberschübe beginnen.

Spätestens dann schreitet Kremsner ein. Er gibt seinen Patienten ein Medikament, das die Einzeller abtötet. "Dann ist man innerhalb von einem Tag von den Parasiten befreit", sagt er. Kremsner ist Direktor des Instituts für Tropenmedizin an der Universität Tübingen, vor fünf Jahren hat er mit den Experimenten begonnen. In Deutschland ist er damit eine Ausnahme. Weltweit gehört der Infektiologe zu einer wachsenden Gruppe von Forschern, die zur Erforschung von Krankheiten auf die Macht "kontrollierter Infektionen" setzen. Sie stecken Freiwillige gezielt mit gefährlichen Krankheiten an: Malaria, Norovirus, Salmonellen, Influenza, sogar Cholera. "Es werden immer mehr solche Versuche gestartet", sagt die Medizinerin Meta Roestenberg von der Universität Leiden.

Vor allem bei der Suche nach Impfstoffen hilft das Vorgehen enorm. Denn wie können Wissenschaftler herausfinden, ob ein Stoff wirklich schützt? In der Regel müssen sie dafür hunderte Menschen impfen und dann über Monate oder Jahre warten, ob die Impflinge wirklich seltener erkranken als Ungeimpfte. Manche Krankheiten treten aber so selten auf, dass es extrem lange dauert, bis ein eindeutiges Ergebnis vorliegt. Wirkt die Impfung nicht, geht alles von vorne los. Kontrollierte Infektionen erlauben hingegen, noch vor den großen Feldversuchen zu testen, ob ein Impfstoff beim Menschen wirkt. "Wir können viel schneller sagen, ob ein Ansatz gut ist oder ob wir ganz von vorne anfangen müssen", sagt Kremsner.

Die Geschichte dieser Technik ist auch eine von Hybris und Verbrechen

Völlig neu ist die Idee natürlich nicht. Schon der erste Impfstoff der Welt wurde so getestet. Der britische Arzt Edward Jenner glaubte, dass eine relativ harmlose Infektion mit Kuhpocken vor den gefährlicheren echten Pocken schützen kann. Am 14. Mai 1796 nahm er etwas Flüssigkeit aus den Pusteln eines Mädchens, das an den Kuhpocken erkrankt war - und impfte damit den acht Jahre alten Sohn seines Gärtners. Um zu prüfen, ob der Junge tatsächlich geschützt war, führte Jenner einige Wochen später dann eine kontrollierte Infektion mit echten Pocken bei dem Kind durch. Der Junge blieb gesund.

Rückblickend ist die Geschichte der Challenges, wie die Technik auf Englisch heißt, auch eine von Hybris und Verbrechen. Einer der ersten, der die Macht künstlicher Infektionen nutzte, war Julius Wagner-Jauregg, ein österreichischer Psychiater. Ihm war aufgefallen, dass Fieberschübe manchen Patienten halfen. So begann er Syphilis-Patienten mit Malaria zu infizieren. Der Effekt war tatsächlich wohl recht klein, bei einem unverhältnismäßig hohen Risiko. Dennoch erhielt Jauregg für seine Entdeckung 1937 den Medizin-Nobelpreis. Auch während des Dritten Reichs infizierten Ärzte in deutschen Konzentrationslagern hunderte Menschen absichtlich mit Krankheiten wie Malaria oder Typhus. Viele starben infolge dieser Experimente, die zu den grausamsten Medizin-Experimenten der Nazis gehörten. In den USA wurden noch in den 1970er Jahren Infektionsversuche an Gefangenen durchgeführt.

Inzwischen gibt es strenge ethischen Regeln für Versuche mit kontrollierten Infektionen. Und bei keiner Krankheit werden sie häufiger gemacht als bei der Malaria. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen sei die Malaria eine ungemein wichtige Krankheit, sagt Ripley Ballou der beim Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline arbeitet. In den letzten Jahren hat die Zahl der Fälle zwar deutlich abgenommen, aber noch immer gibt es mehr als 200 Millionen Erkrankungen pro Jahr und gut 400 000 Todesfälle. Außerdem lässt sich die Krankheit schlecht an Tieren erforschen, denn der Erreger Plasmodium falciparum hat sich auf den Menschen spezialisiert. In Tieren löst dieser Parasit keine Malaria aus. Es gibt zwar andere Erreger, die in Mäusen Malaria auslösen können, aber die unterscheiden sich von dem Erreger beim Menschen.

Ballou hat schon in den 80er-Jahren an Infektionsversuchen teilgenommen. Damals wurden Freiwilligen nacheinander fünf potenziell Malaria übertragende Mücken auf die Haut gesetzt und man ließ sie Blut saugen. Dann wurden die Insekten seziert, um zu überprüfen, ob ihre Speicheldrüse mit Parasiten infiziert waren. "Mit solchen Versuchen haben wir zwischen 1987 und 1996 mehr als ein Dutzend Malaria-Impfstoffe getestet", erinnert sich Ballou. "Keiner davon hat mehr als ein oder zwei Menschen geschützt." Am Ende fanden die Forscher allerdings einen Impfstoff, der wirksamer war. Heute steht er als Mosquirix kurz vor der Zulassung und soll nächstes Jahr in großen Pilotprojekten in Afrika eingesetzt werden.

Auch Kremsner möchte helfen, einen weiteren Malaria-Impfstoff zu entwickeln. Und seit es vor einigen Jahren erstmals gelang, die Malariaerreger im Labor zu züchten und einzufrieren, braucht er dafür keine Mücken mehr. Andere Forscher unternahmen Versuche, bei denen die Erreger in den Muskel oder unter die Haut gespritzt wurden. Kremsner entschied sich, sie direkt in die Vene zu injizieren. Das waren die Experimente, mit denen er vor fünf Jahren in Tübingen begonnen hatte. Erst spritzte er Probanden 50 Sporozoiten, später 200, dann 800. Bei 3200 schließlich erkrankten alle Personen.

Inzwischen testet Kremsner verschiedene Impfstoffe. Ein Ansatz ist es, Menschen abgetötete Malariaerreger zu spritzen. Diese lösen offenbar eine starke Antwort des Immunsystems aus. Denn wenn Kremsner den Teilnehmern einige Monate später die lebenden Sporozoiten spritzt, bricht bei ihnen keine Malaria aus. Solche Experimente seien viel aussagekräftiger als immer weiter an Tieren zu forschen, sagt Kremsner. "Viel zu viel Forschung bleibt im Tierversuch stecken", sagt er. "Wie häufig haben wir Malaria schon in Mäusen geheilt?" Der Forscher ist nicht prinzipiell gegen Tierversuche. Er ist nur enttäuscht von ihrer Aussagekraft in seinem Arbeitsgebiet. Zu häufig seien Impfstoffe oder Medikamente in Tieren hoch wirksam, versagten aber beim Menschen. "Wir sollten uns sehr viele Tierversuche sparen", sagt er. "Man kann viel mehr Menschenversuche machen."

40 Prozent

der Menschen auf der Welt leben in Gebieten, wo die Malaria vorkommt - in den tropischen und subtropischen Regionen aller Kontinente, nur Australien ist frei vom Erreger. Am stärksten betroffen mit etwa 90 Prozent der Fälle ist Afrika. Insgesamt erkranken weltweit etwa 200 Millionen Menschen pro Jahr, davon sterben gut 400 000; die meisten von ihnen sind Kinder unter fünf Jahren. Nach Deutschland wurden in den vergangenen Jahren meist 500 bis 600 Malaria-Fälle eingeschleppt, 2015 passierte das mehr als tausend Mal.

Sie führen allerdings zu größeren ethischen Fragen: Welche Risiken sind für Studienteilnehmer noch zu vertreten? Relativ unproblematisch sind Versuche zu nicht-tödlichen Krankheiten wie etwa der Noroviren-Infektion. In Versuchen mit Influenzaviren werden lediglich schwache Stämme genutzt. Doch Infektionsversuche mit Malaria-Erregern sind schon problematischer, die Krankheit kann unbehandelt zum Tode führen. Allerdings lassen sich die Parasiten bereits eine Woche vor Ausbruch der Krankheit im Blut nachweisen; und eine weitere Woche dauert es, bis sie einen schwerem Verlauf nehmen kann. "Wir haben also ein Fenster von zwei Wochen, wo man das stoppen kann", sagt Peter Kremsner. Er sorgt sich eher über Studienteilnehmer mit suizidalen Absichten. "Wenn jemand verreist oder untertaucht oder sich einfach nicht mehr meldet, dann haben wir alle ein Problem. Er selbst das größte, aber es wäre auch für uns eine Katastrophe." Darum haben die Studienleiter nicht nur Kontakt mit den Teilnehmern, sondern auch mit deren Angehörigen. Und für den schlimmsten Fall steht die Polizei bereit, "Wenn so etwas auftritt, dann würden wir eine Fahndung starten", sagt Kremsner.

Die Ethikkommission hatte noch eine andere Frage, ehe sie die Versuche genehmigte: Könnte Kremsner mit seinen Infektionen ungewollt die Malaria nach Deutschland zurückbringen? Was, wenn eine der infizierten Freiwilligen von einer Mücke gestochen wird, die in der Lage ist, die Einzeller weiterzugeben? "Wir haben zwar in Deutschland noch Anophelesmücken, die zumindest unter den allerbesten Laborbedingungen dazu in der Lage wären", gesteht Kremsner. Selbst das sei jedoch keine Gefahr, weil der Parasit erst nach einer Woche aus der Leber in das Blut übergehen würde. So weit kommt es jedoch nicht, weil in den Studien schon deutlich vor diesem Zeitpunkt therapiert wird.

So vielversprechend der Challenge-Ansatz auch ist, bei jeder Krankheit müssen die Risiken neu abgewogen werden. So sind Forscher sich einig, dass man auf diese Weise nicht nach Impfstoffen gegen HIV suchen sollte. Aber schon bei der Cholera befindet man sich im ethischen Graubereich. Zwar lässt sich die Durchfallerkrankung in der Regel leicht behandeln, man muss einfach die Flüssigkeitsverluste ausgleichen. Infektionsversuche mit Vibrio cholerae wurden in den vergangenen Jahren genutzt, um einen neuen Impfstoff zu entwickeln. Aber die Krankheit löst einen heftigen Durchfall aus, bei dem die Patienten bis zu 20 Liter Flüssigkeit am Tag verlieren. "Das ist schon an der Grenze", sagt Arthur Caplan, Bioethiker an der New York University.

Zumindest für manche Krankheiten gibt es Lösungen. So versucht derzeit etwa Meta Roestenberg von der Universität Leiden, die Bilharziose in den Griff zu bekommen. Würmer der Gattung Schistosoma lösen diese weit verbreitete Tropenkrankheit aus. Eine kontrollierte Infektion galt lange als tabu, weil die Tiere sich im Menschen paaren und dann Eier legen, die chronische Schäden in der Leber und anderen Organen verursachen. Roestenberg will das verhindern, indem sie ihre Testpersonen nur von Männchen infizieren lässt. Eine Mitarbeiterin deponiert einfach mit der Pipette ein paar Tropfen auf der Haut, und dann dringen die winzigen Würmer in den Körper ein.

Bleibt die Frage, wie man Menschen für die Teilnahme an solchen Prozeduren gewinnt. Das Honorar muss hoch genug sein, damit überhaupt jemand mitmacht, sagt Caplan. "Aber es darf auch nicht so viel Geld sein, dass die Menschen blind werden für die Risiken." Kremsners Versuchspersonen erhalten zwischen 1000 und 3000 Euro Aufwandsentschädigung.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2017/chrb
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