Süddeutsche Zeitung

Medizin am Lebensende:Braucht die Palliativmedizin einen neuen Namen?

Die Palliativmedizin kann die Lebensqualität unheilbar Kranker steigern, doch manche Patienten empfinden sie als stigmatisierend. Nun fordern kanadische Ärzte ein neues "Branding".

Von Werner Bartens

Wenn es Patienten schlecht geht, gibt es wenig zu beschönigen. Schwere obstruktive Lungenerkrankungen, ausgeprägte Herzinsuffizienz und zahlreiche Krebsformen lassen sich zwar behandeln, aber in vielen Fällen nicht mehr heilen. Hilft es da wirklich, die Versorgung von Patienten mit ausgeprägten Leiden anders zu benennen? Diesen Vorschlag machen Ärzte aus Toronto im Canadian Medical Association Journal (online). Viele Menschen würden den Begriff "Palliativmedizin" mit dem baldigen Tod in Verbindung bringen und deshalb davor zurückschrecken, diese Form der Versorgung in Anspruch zu nehmen.

Die Krebsmediziner und Psychiater um Camilla Zimmermann untermauern ihren Vorschlag mit einer Erhebung an Patienten, Ärzten und Pflegekräften. "Die Mehrzahl der Beteiligten verbindet eine Palliativversorgung mit Medizin am Lebensende und reagiert mit Angst und Vermeidung", sagt Zimmermann. "Das Thema muss anders wahrgenommen werden und vielleicht ist dafür auch ein neuer Name und ein neues ,Branding' nötig." Supportive Care statt Palliative Care beispielsweise.

Nach ein, zwei Tagen hört man von den Patienten oft: "Mein Gott, wäre ich bloß früher gekommen."

Ein Teil der Patienten mit fortgeschrittenem Krebs hatte frühzeitig eine palliativmedizinische Versorgung bekommen, der andere Teil erhielt die übliche onkologische Behandlung. Jene Teilnehmer, die früh palliativ betreut wurden, wiesen nicht nur eine bessere Lebensqualität auf, sondern erlebten diese Form der Versorgung auch als äußerst hilfreich. Einen derartigen Meinungsumschwung bei Patienten erlebt auch Claudia Bausewein immer wieder, die Leiterin der Palliativmedizin am Klinikum Großhadern: "Die Kranken sagen oft, dass sie zunächst nicht hierher wollten - nach ein, zwei Tagen hört man von ihnen: Mein Gott, wäre ich bloß früher gekommen."

In der kanadischen Studie hatten sich zwar Patienten stigmatisiert gefühlt und den Eindruck, dass eine andere Bezeichnung es ihnen leichter gemacht hätte, die Palliativversorgung in Anspruch zu nehmen. Claudia Bausewein hält eine Änderung des Namens jedoch für Augenwischerei. "Für wie blöd würden uns die Patienten halten?", fragt die Ärztin. "Es geht doch nicht um Namen, sondern um Inhalte. Und da umfasst die Palliativversorgung längst mehr als Krebsmedizin und Begleitung am Lebensende." Die Palliativmedizin trage auch zur Lebensverlängerung bei, die Lebensqualität steigere sie sowieso, wie zahlreiche Studien und Erhebungen zeigten.

"Leidenslinderung ist nicht nur auf die letzte Lebensphase begrenzt, sondern von der Situation des Patienten abhängig", sagt Georg Marckmann, Medizinethiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Weil es die überholte Vorstellung von Palliativmedizin ausschließlich als Sterbensbegleitung gibt, wird sie oft zu spät hinzugezogen." Claudia Bausewein sieht die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: "Da auch viele Ärzte die Palliativmedizin nur mit dem Lebensende in Verbindung bringen, kommen etliche Patienten spät zu uns und sterben dann auch in Kürze."

Um die Wahrnehmung der Palliativmedizin zu ändern, müsse auch ein Umdenken von Ärzten und Pflegekräften stattfinden. Die kanadischen Patienten berichteten, dass es besonders die Doktoren und Krankenschwestern waren, die damit vor allem die Versorgung am Lebensende gemeint hätten. "Wer ein Problem mit dem Begriff hat, hat auch ein Problem mit dem Thema", sagt Bausewein. "Krebsmediziner müssen die grundsätzliche Frage zulassen, wie früh sie mit Patienten darüber reden, dass eine Krankheit nicht nur gut ausgehen, sondern auch den gegenteiligen Verlauf nehmen kann."

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SZ vom 19.04.2016/beu
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