Medizin:Knochenjob

Medizin: Lachen und Toben mit der Familie hilft - auch bei Kinderrheuma.

Lachen und Toben mit der Familie hilft - auch bei Kinderrheuma.

(Foto: Benedikt Ziegler)

Rheuma? Das hat doch Opa, denken Kinder, denken auch viele Eltern. Stimmt leider nicht. Die Geschichte einer unterschätzten Krankheit.

Von Felix Hütten

So ein Kind darf ja auch mal bockig sein, "jetzt streck doch mal die Beine durch", sagt die Sprechstundenhilfe, sagt die Mutter, "bitte Enrico, einmal, ganz kurz". Doch Enrico streckt die Beine nicht, das linke Knie bleibt eingeknickt, da ist nichts zu machen. Nicht, weil der damals zweijährige Bub nicht will, sondern weil er nicht kann. Das Knie entzündet, voller Schmerz, wenn er es durchstrecken würde, also bleibt es angewinkelt, da sind Kinder stur, wer kann es ihnen übel nehmen? Schonhaltung sagen Mediziner dazu, es ist das erste Zeichen für Kinderrheuma.

Rheuma? Das hat doch der Opa, sagen Kinder, das dachten damals auch die Eltern von Enrico. Und so stecken in dem Thema viele Missverständnisse: Eltern, Patienten, selbst manchen Ärzten ist Kinderrheuma unbekannt, obwohl immerhin 20 000, vielleicht sogar 25 000 Kinder in Deutschland betroffen sind.

Und so wundert es nicht, dass die Erkrankung erst nach dem Krieg relevant wurde im Behandlungsangebot deutscher Kliniken. Spricht man mit Ärzten und erkrankten Kindern, zeigt sich rasch, dass das Problem nicht nur die Behandlung ist, sondern auch die Aufklärung: Nicht nur Opa hat Rheuma, sondern auch Enrico, der heute 17 Jahre alt ist und in der Nähe von Erfurt lebt.

Die Körperhaltung stimmt nicht, hier ist etwas faul

Seine Geschichte beginnt, als dem Kinderarzt auffällt, dass sich der damals noch sehr kleine Junge eigenartig bewegt. Die Körperhaltung stimmt nicht, hier ist etwas faul. Enrico leidet an der sogenannten juvenilen idiopathischen Arthritis (JIA), es ist die häufigste Form des Kinderrheumas, etwa 12 000 Kinder sind in Deutschland betroffen. Juvenil bedeutet jugendlich, idiopathisch heißt: ohne erkennbare Ursache von außen. Arthritis ist die Gelenkentzündung, das Hauptmerkmal des Rheumas. In diesem Wortwirrwarr versteckt sich ein großes Missverständnis des Kinderrheumas: Die eine Krankheit nämlich gibt es nicht.

Medizin: Mit Ultraschall können Entzündungsherde besonders im Hüft- und Schultergelenk gut dargestellt werden.

Mit Ultraschall können Entzündungsherde besonders im Hüft- und Schultergelenk gut dargestellt werden.

(Foto: Benedikt Ziegler)

Mehr als hundert Typen und Unterformen zählen Experten zum kindlichen Rheuma, manche sind so selten, dass selbst erfahrene Ärzte nicht mehr als ein, zwei, drei Patienten im Laufe ihres Berufslebens behandeln. Grob unterschieden wird zwischen akuten und chronischen Gelenkentzündungen sowie komplexen Erkrankungen, von der auch innere Organe betroffen sein können. Die JIA als häufigste Form zählt zu der chronischen Variante. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn vor allem Entzündungen, die über Jahre hinweg immer wieder aufflammen, steigern die Gefahr dauerhafter Schäden. Und so brodeln im Körper der JIA-Patienten Entzündungsherde, mal nur in einem Gelenk, mal in vier, mal in fast allen: Hüfte, Knie, Finger, Kiefer, so wie bei Enrico, dessen Finger leichte Krümmungen zeigen, der Kiefer ist leicht schief, immerhin, es könnte schlimmer sein.

Wie läuft das Kind? Kneift es die Augen zusammen? Zieht es den Arm weg? Wirkt es müde, missgelaunt?

Chronische Formen des Kinderrheumas beginnen oft im Kindesalter, mal in Folge einer Infektion, häufig aber einfach so. Entdeckt wird die Krankheit meist erst dann, wenn Kinder sich ungewohnt bewegen. Die Untersuchung der Gelenke zeigt dann, dass die Beweglichkeit massiv eingeschränkt ist, die betroffene Stelle ist warm und geschwollen, Kinder verziehen das Gesicht, wenn der Arzt den Arm zu weit beugt, die Schulter rotiert, das Knie streckt. Doch die Diagnose Rheuma ist nicht immer leicht zu stellen, Wachstumsschmerzen kennen viele Schulkinder, und Eltern vermuten gerne mal, das dicke Knie ihrer Kinder käme von einem rabiaten Fußballfoul.

Um Kinderrheuma von Alltagsbeschwerden zu unterscheiden, braucht es ein waches Auge, Fingerspitzengefühl der Ärzte. Wie läuft das Kind, kneift es die Augen vor Schmerz zusammen, zieht es den Arm weg, wirkt es müde, missgelaunt? Immunologische Marker und Entzündungsparameter wie der Anstieg bestimmter Eiweißspiegel können weitere Hinweise liefern, den einen sicheren Labornachweis aber gibt es nicht. Hilfreich ist auch der Ultraschall, der Entzündungsherde besonders im Hüft- und Schultergelenk gut darstellt.

Ursache der Schmerzen und Schwellung in den betroffenen Gelenken ist ein Angriff des eigenen Immunsystems auf das eigentlich gesunde Gelenkhäutchen - die Folge ist eine Entzündung. Die wiederum führt zu einer starken Durchblutung, die Gelenkinnenhaut schwillt an, es sammelt sich Flüssigkeit im Gelenkspalt. Man muss sich zwei menschliche Knochen wie einen Wasseranschluss vorstellen: Metall auf Metall verträgt sich nicht, Knochen auf Knochen tut furchtbar weh.

Was für den Klempner Hanf, Fett oder Teflonband ist, löst der Körper mit einem Gelenkspalt, in dem sich Knorpel und Flüssigkeit befinden - sonst verkantet und verkeilt das Ganze gnadenlos. Wird die Entzündung nicht gestoppt, passiert genau das: Der Knorpel kann nicht mehr mit Nährstoffen versorgt werden, Knochen reibt auf Knochen, die Folge ist Schmerz, Schmerz, Schmerz.

Entzündete Gelenke also spürt der Mensch ganz grausig, und Kinder, auch wenn sie meist noch zu jung sind, um zu sprechen, suchen dann nach Lösungen, denn die Welt nicht zu erkunden, das geht ja schließlich auch nicht. Also stützen sie ihren Körper - zum Beispiel beim Krabbeln durch das Wohnzimmer - auf den Handrücken, statt auf die Handfläche. Die Folge dieser massiven Fehlstellung sind Schäden in den Sehnen, es entsteht ein Muskelungleichgewicht, manche Muskelgruppen werden stark beansprucht, andere vernachlässigt. Die Folge sind aufgestellte oder unnatürlich abgespreizte Finger, abgeknickte Hände. Sind gröbere Gelenke betroffen, bewegen sich die Kinder wie Roboter.

Wenn Rheuma den Körper eines Kindes unwiederbringlich zerstört

Das alles klingt noch nicht lebensbedrohlich, doch um zu verstehen, wie Rheuma den Körper eines Kind unwiederbringlich zerstören kann, lohnt eine Reise in die Berge. In Garmisch-Partenkirchen, dort, wo Menschen grüne Wiesen und weiße Hänge zur Erholung suchen, empfängt Johannes-Peter Haas mit festem Händedruck seine Patienten, auch den 17-jährigen Enrico. Haas ist Chef der Rheumakinderklinik in Garmisch, in der jedes Jahr etwa 2000 junge Patienten mit unterschiedlichsten Rheumaformen behandelt werden.

Haas ist stolz auf die Fortschritte der Rheumatherapie der vergangenen Jahrzehnte. Und noch zufriedener wäre er, wenn es nicht so viele Mythen über die Krankheit gäbe. Zum Beispiel: Kinderrheuma komme von der Wasserader unter dem Haus. Von falscher Ernährung, zu viel Fleisch, zu wenig Fleisch, gar kein Fleisch, alles schon gehört, sagt Haas. Vor allem aber ärgert er sich, wenn die Krankheit bagatellisiert wird - die paar Schmerzen, was soll's? Immer wieder müssen er und seine Kollegen erleben, wie Eltern ihr Kind in der Klinik vorstellen, und dann einfach wieder abreisen, wenn die Diagnose lautet: Rheuma.

Als das Mädchen neun Monate später wieder in die Klinik kommt, ist seine Hüfte für immer zerstört

Haas hat Röntgenbilder in der Schublade, zum Beispiel die von einem Mädchen, zwölf Jahre alt, die Hüfte ist durch die Entzündung schon angefressen, die Eltern aber wollten partout keine Behandlung, erst mal Naturmedizin, ein bisschen Homöopathie hat ja noch niemandem geschadet. Als das Kind neun Monate später wieder in die Klinik kommt, von Schmerzen gezeichnet, musste Haas im Röntgenbild die zerstörte Hüfte des Mädchens sehen. "Die Angst ist groß", sagt Haas, besonders bei den eher gebildeten Familien.

Medizin: Rheuma kann sogar zu einer Entzündung der Iris führen, die mit einer Erblindung enden kann. Regelmäßige Augenuntersuchungen sind wichtig.

Rheuma kann sogar zu einer Entzündung der Iris führen, die mit einer Erblindung enden kann. Regelmäßige Augenuntersuchungen sind wichtig.

(Foto: Benedikt Ziegler)

"Wenn Eltern hören, dass ihr Kind chronisch krank ist, eine Heilung möglich ist, aber nun mal nicht sicher, schalten viele ab, anstatt zu akzeptieren, wie krank ihr Kind nun mal ist." Hinzu kommen große Zweifel an Medikamenten. Standardtherapie ist seit vielen Jahren Methotrexat, kurz MTX, eine Substanz, die aus der Krebsmedizin stammt. In der Rheumatherapie wird sie in deutlich geringeren Dosen verwendet, mit Erfolg. Doch so manche Mütter oder Väter wehren sich gegen das Medikament, es könnte, so die Angst, das Kind vergiften.

Manche Kinder schüttelt es schon beim Anblick der gelben Flüssigkeit, dann müssen Alternativen gefunden werden. Eines dieser Ausweichmedikamente ist Etanercept, ein sogenanntes Biologikum. Diese Substanzen enthalten gentechnisch hergestellte Eiweißstoffe, die aus lebenden Zellkulturen gewonnen werden und sich gegen Botenstoffe im Immunsystem richten, die eine Entzündung im Körper fördern.

Auch hier sorgen sich Eltern, dass der Wirkstoff das Krebsrisiko steigern könnte. Tatsächlich zeigen Langzeitdaten, dass Rheumakinder ein erhöhtes Risiko für bösartige Tumore haben, sagt Kirsten Minden vom Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin. Derzeit gehe man davon aus, dass die Erkrankung an sich das Tumorrisiko steigert, und weniger die Therapie durch Biologika, so die Ärztin. Auch Minden erlebt immer wieder Eltern, die im Internet nach MTX oder Biologika googeln, in Beipackzetteln das Wort "Krebs" lesen und in Panik verfallen. Wichtig sei daher, sagt Minden, Eltern und Kinder gut aufzuklären.

Tatsächlich gibt es bislang nur wenige große Studien zum Einsatz von Biologika für Rheumakinder. Hinzu kommt: Bei einigen Rheumaformen müssen Ärzte auf Medikamente zurückgreifen, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten auf den Markt gekommen sind. Kristen Minden und ihr Team versuchen, in einer deutschlandweiten Studie diesem Dilemma zu begegnen. Ihre Daten sollen helfen, besser bewerten zu können, wie wirksam und sicher Biologika tatsächlich sind - und damit einheitliche Standards zu setzen. Auch die Leitlinie zur Behandlung der JIA wird derzeit überarbeitet.

Medizin: Beim Reiten wird die Beweglichkeit trainiert, zugleich tut ein freundliches Tier der Seele gut.

Beim Reiten wird die Beweglichkeit trainiert, zugleich tut ein freundliches Tier der Seele gut.

(Foto: Benedikt Ziegler)

Falsch aber ist die Annahme, dass Rheumaärzte nach Lust und Laune Pülverchen zusammenrühren würden. Diese Vorstellung sei fatal, das betonten Minden und Haas gleichermaßen. Patientenstudien zeigen, dass Rheumakinder, die früh und ohne Unterbrechungen behandelt werden, gute Chancen haben, eines Tages beschwerdefrei zu leben. Deshalb sei es wichtig, Eltern früh von den Vorteilen einer Therapie, auch mit MTX und Biologika, zu überzeugen - um "das Rheuma in den Zustand einer Remission zu überführen", wie Minden sagt, was soviel heißt wie: Noch gelingt es der Medizin nicht immer, Rheuma aus dem Kinderkörper zu vertreiben. Was aber immer öfter gelingt: Rheuma schlafen zu legen, sodass Ruhe herrscht in den Gelenken und Kinder sich bewegen können, ins Leben starten, und zwar so früh wie möglich.

Die Ärzte vermeiden Begriffe wie Krankengymnastik. Besser klingt: Sporttherapie

Ein Problem ist, dass Rheumatherapie für die Kinder richtig Arbeit bedeutet. Nicht selten verlieren sie die Motivation, auch Enrico, der 17-jährige Gymnasiast aus der Nähe von Erfurt ist ab und zu richtig genervt. Bewegung heißt für ihn, Angeln zu gehen, sein Hobby, das er so sehr liebt, dass er auch mal in einer feuchten Herbstnacht am Seeufer das Zelt aufschlägt, Karpfen beißen nun mal am Tag nicht gerne, sagt Enrico. Wenn es draußen also nass und kalt ist, oder wenn Enrico drei, vier Stunden im Wasser die Route auswirft, um Forellen zu fangen, ist seine Mutter nur wenig begeistert, denn die nasskalten Nächte verschlechtern sein Rheuma. Mir aber, sagt Enrico, kann man das nicht verbieten.

Der Junge quält sich dennoch zu fünf Einheiten in der Woche Physiotherapie, Ergotherapie, manuelle Therapie: Sport, Gymnastik, Töpfern und Kneten für die Finger. Und danach, sagt Enrico, ist es halb sieben am Abend, dann hat er aber noch nichts gegessen, keine Hausaufgaben gemacht, keine Freunde getroffen, "dann habe ich auch mal keinen Bock mehr".

Heute weiß man, dass Bewegung ein elementarer Bestandteil der Therapie ist, unter zwei Bedingungen. Erstens darf Sport nicht zu sehr die Gelenke belasten, Weitsprung, Leichtathletik, Fußball ist für viele Patienten nicht gut, auch Angeln lässt die Handgelenke schmerzen, Enrico trägt deshalb eine Handschiene, die oft hilft, aber nicht immer. Bedingung zwei: Cool muss es sein. Die Ärzte vermeiden Begriffe wie Krankengymnastik, besser klingt: Sporttherapie. Alles nur, damit Kinder den Mut nicht verlieren. Enrico weiß, dass er dranbleiben muss, auch wenn es ihn manchmal abgrundtief nervt.

Auch, weil trotz all seiner Mühe eben nicht alles möglich ist, harte körperliche Arbeit zum Beispiel geht nicht. Enrico hat einst von einer Ausbildung zum Landschaftsgärtner geträumt, er jobbt nebenbei in der Gärtnerei. Jetzt will er Chemie studieren, auch gut, sagt er, denn sich unterkriegen lassen vom Rheuma ist ganz sicher nicht drin.

Für die Fotos zu diesem Text hat der 26-jährige Fotograf Benedikt Ziegler Rheumakinder im Rahmen seiner Studienschlussarbeit ein Jahr lang begleitet. Er ist selber seit fünfzehn Jahren von der Krankheit betroffen. Mit seinen Fotos wurde er 2016 Gewinner des Wettbewerbs "Was kann Selbsthilfe" und erhielt eine ehrenvolle Erwähnung beim "Unicef-Foto des Jahres 2016".

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