Es muss nicht immer eine gute Idee sein, seinen Arzt oder Apotheker zu befragen. "Ich hatte einen neuen Freund und bin eigentlich zu meinem Gynäkologen gegangen, damit er mir Alternativen zur Pille aufzeigt, weil so viele Freundinnen Probleme damit hatten", sagt Kathrin Weigele. "Der Arzt ist auf mein Anliegen mit keinem Wort eingegangen, sondern hat immer wieder nur von der Pille gesprochen, er hat mich überhaupt nicht ernst gen ommen. Er sprach immer wieder von einer bestimmten Pille. Neu, sehr verträglich, niedrig dosiert und besonders schonend. Ich sollte mir überhaupt keine Gedanken machen."
Die 33-Jährige hielt sich an den Rat und machte sich keine Gedanken. Das Verhütungsmittel war bunt verpackt, es lag sogar ein Schminkspiegel dabei, und die Schachtel war mit Stickern verziert. Sie hatte deshalb das Gefühl, "dass es sich um ein besonders harmloses Präparat handeln musste". Fünf Monate nach Einnahme der ersten Pille dieser Art konnte Weigele, die immer ziemlich sportlich war, eine kurze Strecke nicht mehr ohne Pause zurücklegen. Sofort war sie außer Atem, angestrengt und schlapp. Irgendwann musste sie auf jeder Treppenstufe zu ihrer Wohnung im zweiten Stock eine Pause einlegen. Die Computertomografie an der Uniklinik Regensburg erbrachte die Diagnose: Beide Lungenflügel waren voll mit Blutgerinnseln. Die Thromben hatten sich in den Bein- oder Beckenvenen gebildet und waren mit dem Blutstrom in die Lunge gelangt. Verstopfen sie dort die Adern, kann dies nicht nur akute Atemnot auslösen, sondern tödlich enden.
Thrombose? Das ist doch was für alte Leute, so was bekommt höchstens meine Oma
Dass die Pille in seltenen Fällen die Neigung zu einer Thrombose erhöhen und lebensgefährliche Embolien auslösen kann, ist seit Jahren bekannt. "Aber wahrscheinlich denken die meisten Frauen: Eine Thrombose, das ist doch was für alte Leute, das bekommt höchstens meine Oma", sagt Marie-Luise Dierks, Gesundheitswissenschaftlerin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Weniger bekannt ist, dass die neuesten Varianten des Verhütungsklassikers, der seit 1961 in Deutschland auf dem Markt ist, deutlich mehr Risiken mit sich bringen als die Vorgängerpräparate. Nehmen Frauen Pillen der 3. und 4. Generation, ist das Risiko für Thrombosen bis zu doppelt so hoch wie bei den bewährten Pillen der 2. Generation.
Entscheidend für das Risiko ist der Anteil der Hormon-Komponenten in den Verhütungsmitteln. Pillen der 2. Generation, die das Gestagen Levonorgestrel oder Norethisteron enthalten, sind mit dem geringsten Risiko für Thrombosen verbunden. Andere, etwa mit den Gestagenen Desogestrel (Lamuna, Desmin) oder Drospirenon (dazu gehören Präparate wie Yasmin, Yasminelle, Yaz, Aida), weisen ein bis zu doppelt so hohes Risiko auf. Das Präparat Zoely, 2012 auf den Markt gekommen, enthält Nomegestrol und ist noch riskanter zu bewerten. In den USA wurde diese Pille aufgrund von Sicherheitsbedenken gar nicht erst zugelassen. In Deutschland gewinnt sie beständig an Marktanteilen und hat 2014 bereits Platz elf der meistverkauften Pillen erreicht.
Für den Bestseller unter den Pillen sieht es auch nicht besser aus. Maxim, die meistverkaufte Pille 2014, enthält das Gestagen Dienogest, wie es auch Bestandteil der Präparate Velafee und Dienovel ist, die ebenfalls unter den Top 10 rangieren. Hier fehlen immer noch ausreichend Daten, um die potenziellen Risiken zuverlässig bewerten zu können.
Man muss daran erinnern: Die Pille ist ein segensreiches Medikament, das Lebensplanung und Sexualität erleichtert. Aber mit der Pille soll kein Leiden behandelt, sondern eine Schwangerschaft verhütet werden - alle Präparate sind ähnlich zuverlässig. Gefahren spielen bei der Entscheidung für ein Präparat offenbar kaum eine Rolle, denn mittlerweile entfallen die Hälfte aller Pillenpackungen auf solche mit neueren Gestagenen und höheren Risiken. "Bei einem Blick auf die Verordnungsdaten fällt schnell auf, dass die neuen und moderneren Präparate der 3. und 4. Generation wesentlich häufiger verordnet werden als Pillen der 1. und 2. Generation", sagt Jens Baas, Vorsitzender der Techniker Krankenkasse. "Dabei ist neu nicht automatisch besser - im Gegenteil."
Dass neue Medikamente manchmal nur teurer und unsicherer sind als Substanzen, die sich bereits auf dem Markt befinden, zeigen etliche Beispiele aus der nicht eben kurzen Chronik der Arzneimittelskandale. Die Pillen der 3. und 4. Generation werben jedoch mit einem verführerischen Zusatznutzen gegenüber ihren Vorgängerpräparaten: Die Haut der Anwenderinnen soll glatter und schöner werden, das Haar voller - und auch die von manchen Frauen gefürchtete Gewichtszunahme unter der Pille bliebe aus. Das versprechen die Hersteller. "Bewiesen ist das keineswegs. Studien dazu werden von den Firmen gemacht und die sind von schlechter Qualität, das ist alles sehr dünn", sagt Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Hamburg.
Bei den angepriesenen Beauty-Effekten gehe es beispielsweise darum, so Mühlhauser, wie viele Pusteln weniger im Gesicht zu finden sind. Es geht nicht um monströse Krater und Eiterpickel, sondern um kleine Unebenheiten der Haut. "Man hat mit dieser Pille keine strahlende Haut, sondern eben ein paar Pusteln weniger, vielleicht 35 statt 50", sagt die Ärztin. "Gibt man Frauen ein Scheinpräparat, ist das ganz ähnlich, dann haben sie statt 50 nur noch 40 Pusteln. Dieser angebliche Schönheitsnutzen, der ist gleich null."
Unter jungen Frauen nimmt der Marktanteil der Pillen der 3. und 4. Generation trotzdem stetig zu. Das ist einigermaßen rätselhaft, denn die Risikobewertung der Europäischen Arzneimittelbehörde hat eindeutig ergeben, dass die Präparate zu einem deutlich höheren Embolie- und Thromboserisiko führen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat im Frühjahr 2014 entschieden, dass in immer mehr Beipackzetteln auf die erhöhte Gefahr hingewiesen werden muss. Sonstige Konsequenzen bisher: keine.
Dem Antrag aus Frankreich, die Zulassung der Pillen komplett zurückzunehmen, wurde zwar nicht stattgegeben. Im Nachbarland wurde den Pillen der 3. und 4. Generation im Jahr 2013 die Erstattungsfähigkeit durch die Krankenkassen entzogen, sodass der Marktanteil dort um 45 Prozent zurückging. Nebeneffekt: Im selben Zeitraum mussten 28 Prozent weniger Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren aufgrund von Lungenembolien in die Klinik.
"Es ist schon ein merkwürdiges Phänomen: Alle Risiken sind bekannt, alle Fakten liegen auf dem Tisch - und trotzdem muss man den Eindruck haben, als ob wir mit offenen Augen ins offene Messer rennen", sagt Mühlhauser. "Wenn es keinen Zusatznutzen gibt, aber die Gefahren größer sind als bei den bewährten Mitteln, verstehe ich nicht, warum es diese neuen Präparate überhaupt noch gibt." Fragen, die sich nicht nur an die Frauen richten, die eine der neueren Pillen schlucken, sondern auch an Ärzte und Gesundheitsbehörden. Warum verordnen Mediziner diese Form der Pille auch weiterhin? "Die Unwissenheit der Ärzte wie die der Patienten ist ein idealer Schauplatz für andere Interessen", sagt Mühlhauser nüchtern.
Anti-Baby-Pille:Riskante Verhütung
Zu viele junge Mädchen verhüten mit neuen Anti-Baby-Pillen, klagt die Techniker Krankenkasse. Dabei bergen etliche dieser Präparate ein höheres Gesundheitsrisiko.
Das geschickte Marketing mit Verpackungen und Give-aways für die Girlie-Generation trägt dazu bei, dass die neuen Pillen kaum noch wie ein Medikament wahrgenommen werden, das eben auch Risiken und Nebenwirkungen hat, sondern wie ein Lifestyle-Produkt. Zudem ist den unterschwelligen Angeboten an die Psyche schwer zu widerstehen. "Die Schönheitsversprechen spielen eine wichtige Rolle für viele junge Frauen, die sich stark über ihr Äußeres definieren", sagt Marie-Luise Dierks. "Zudem erscheint der kurzfristige Nutzen größer und greifbarer als ein möglicher langfristiger Schaden, der zudem vielleicht ja doch nie eintritt."
Eugen Bleuler, ein Psychiater, hat schon 1919 über "das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin" geschrieben - und darüber, wie schwer es ist, es zu überwinden. Es gehe demnach in der Medizin nicht primär um die Wahrheit, sondern um die Erfüllung von Wünschen. "Mit Logik ist der Medizin leider oft nicht beizukommen", sagt Ingrid Mühlhauser. "Bekommt man gesagt, dass die Haut schöner wird, ist das andere doch egal und wird ausgeblendet. Risiken? Davon will man ja eigentlich gar nichts wissen." Hinzu kommt das fast völlig fehlende Statistikverständnis der meisten Ärzte, die nicht einordnen können, was ein bestimmtes Risiko für eine Frau konkret bedeutet. Mühlhauser fragt sich, wie Entscheidungen in der Medizin zustande kommen, wenn weder Laien noch Ärzte genau verstehen, worüber sie eigentlich reden.
"Es gibt für die einzelne Frau keine fünfzehntausendstel Thrombose oder Lungenembolie", sagt Petra Thürmann, Klinische Pharmakologin in Wuppertal. "Hier gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Entweder es trifft eine Frau oder nicht." Umso wichtiger sei es, dass Ärzte wie Patientinnen verstehen, auf welches Risiko sie sich einlassen und wie man es möglichst kleinhalten kann. Eigentlich ganz einfach: durch die Einnahme von Pillen, für die in zahlreichen epidemiologischen Studien das geringste Risiko gezeigt werden konnte.
Leider gibt es in Deutschland keine Verpflichtung für Ärzte, ihre Patienten nach dem besten verfügbaren Wissen und entsprechend den Leitlinien zu behandeln. Ärzte berufen sich gerne auf ihre Therapiefreiheit - und rechtfertigen damit so manchen Wildwuchs in der Behandlung. "In der Summe führt dies dazu, dass es viele schlechte Entscheidungen und Therapien gibt", so Mühlhauser. "Man sollte als Arzt stattdessen lieber von seiner Therapieverantwortung reden."
Zwei bis drei von 10 000 Frauen im gebärfähigen Alter, die keine Pille nehmen, erleiden innerhalb eines Jahres eine Thrombose. Die Gefahr, unter Einnahme der Antibabypille eine Thrombose zu bekommen, ist 1,5- bis zweimal so groß, wenn sie ein Präparat der 2. Generation nimmt, betrifft also vier bis sechs von 10 000 Frauen.
Die Pille der 3. und 4. Generation löst hingegen bei neun bis zwölf von 10 000 Frauen eine Thrombose aus. Rauchen Frauen und nehmen die Pille, ist ihr Risiko gar um das 20- bis 80-Fache erhöht. Was prozentual nach wenig klingt, ist bezogen auf die sechs bis sieben Millionen Frauen, die allein in Deutschland mit der Pille verhüten, jedoch eine beachtliche Anzahl. Wechseln immer mehr Frauen zu den neuen Präparaten, nehmen Komplikationen zwangsläufig zu.
Im "Pillenreport 2015", der vor Kurzem erschienen ist, zeichnen die Arzneimittelexperten Gerd Glaeske und Petra Thürmann nach, wie es dazu gekommen ist, dass die Pillen der 3. und 4. Generation von immer mehr jungen Frauen genommen wurden. Direkte Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist in Deutschland zwar verboten. Gibt man jedoch im Internet die Suchbegriffe "Pille", "Antibabypille" oder "Verhütung" ein, landet man zuverlässig unter den Top-Ten-Treffern bei Seiten von Pharmafirmen.
Dort geht es vordergründig darum, Frauen aufzuklären und ihnen Tipps zu geben. Es werden aber auch Themen angesprochen, die offenbar viele junge Frauen beschäftigen wie reine Haut, volle Haare und eine gute Figur. Fast alle Seiten sind als Angebote der Pharmafirmen zu erkennen oder anhand des Logos der Anbieter zu identifizieren - und nur wenige Klicks weiter kommt man auf Themen wie Beziehungen, Lifestyle und Schönheit.
Die Pharmaindustrie lenkt und stimuliert auf diese Weise das Verhalten der Frauen. Die hohe Akzeptanz der neuartigen Pillen führt zu dem Wunsch in der Arztpraxis, ein ganz bestimmtes Präparat zu bekommen. "Es gilt das Motto: Meine Freundin nimmt das auch", sagt Marie-Luise Dierks. "Das geschickte Marketing führt dazu, dass die Ärzte diese Pille bereitwillig verschreiben." Unter Ärzten gilt, dass jene Mittel, die bereits genommen und gut vertragen werden, auch beibehalten werden sollten.
Die Entscheidung für die Pille fällt bei den meisten Frauen bereits im Teenageralter. Die Mehrzahl bleibt bei "ihrem" Präparat bis zum Kinderwunsch - oder bis sie andere Umstände zwingen, das Mittel abzusetzen. Dass die Pillen, die mit höheren Risiken einhergehen, den Markt dominieren, hält Pharmakologin Thürmann für ein Versagen der Risikokommunikation. Andererseits scheint die Pharmaindustrie effektive Strategien gefunden zu haben, die Risiken geringfügig erscheinen zu lassen. "Die Hersteller von Pillen haben offenbar herausgefunden, wie man gerade für die Zielgruppe der jungen Frauen neue Medien nutzt, um diese spezifisch und mit ihrer Sprache zu erreichen", so Thürmann. "Warnhinweise von Behörden wie auch die Stimmen kritischer Ärzte und Wissenschaftler verhallen hingegen im Raum."