Es kommt vermutlich selten vor, dass ein Gesetz bereits in seiner Entstehung einen vielstimmigen Reigen an Kritik auf sich zieht. Der Referentenentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium heißt im Kleinkind-Sprech „Gesundes-Herz-Gesetz“. Das ändert allerdings nichts daran, dass sich Ärzte und Wissenschaftler diverser Fachrichtungen einig darin sind, dass der Plan womöglich gut gemeint, aber einseitig und unausgegoren ist.
Man könnte den Verantwortlichen zugutehalten, dass sie mit ihrer 53-seitigen Vorlage Deutschlands mäßige Bilanz in der Herzgesundheit aufpolieren wollen. Das Land hat im EU-Durchschnitt die mit Abstand höchsten Gesundheitsausgaben, liegt aber in der Lebenserwartung in Westeuropa nur im hinteren Mittelfeld. Ein Grund: Jährlich sterben 350 000 Menschen in Deutschland an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, dem Killer Nummer eins, der ein Drittel aller Todesfälle ausmacht und mit 57 Milliarden Euro die höchsten Kosten verursacht.
Um die Herzgesundheit zu verbessern, sind laut der Gesetzesvorlage schon bei Kindern und Jugendlichen Früherkennungstests auf Fettstoffwechselleiden vorgesehen. Zudem sind Check-ups im Alter von 25, 35 und 50 Jahren geplant. Der Schwerpunkt liege „auf der Erfassung von familiären Risiken und lebensstilbezogenen Risikofaktoren sowie der Früherkennung bereits bestehender (Risiko-)Erkrankungen (wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Diabetes, Adipositas)“.
Besonders heftige Kritik löst das Vorhaben aus, Cholesterinsenker, sogenannte Statine, großzügiger zu verordnen. Die Medikamente senken den Spiegel der Blutfette, besonders des „bösen“ LDL-Cholesterins, das sich in der Gefäßinnenhaut einlagern und im Zusammenspiel mit Immunzellen und Kalkablagerungen zum Verschluss von Arterien führen kann. Infarkt und Schlaganfall sind mögliche Folgen. „Geschätzt zusätzlich circa 2 Millionen Patienten hätten grundsätzlich Anspruch auf Versorgung“ mit den Arzneimitteln, wird in dem Entwurf vorgerechnet. Dazu zählen auch Kinder, bei denen eine genetische Belastung mit hohen Blutfetten, die „Familiäre Hypercholesterinämie“, festgestellt wird.
Gesundheitsfördernde Lebensbedingungen ließen sich mit dem Entwurf nicht erreichen, meinen Kritiker
Das Screening verbunden mit einer raschen Medikamentengabe stößt Kritikern auf. „Mit zusätzlichen Check-ups sowie einer frühestmöglichen und dauerhaften Gabe von Arzneimitteln stehen vermeintlich einfache Lösungen im Raum“, heißt es in einer Stellungnahme der unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der über die Kassen-Finanzierung von Therapien und Screenings entscheidet. „Die Ansätze konterkarieren die eigentliche Zielsetzung, die individuelle Gesundheitskompetenz zu verbessern und für möglichst gesundheitsfördernde Lebensbedingungen zu sorgen.“ Zudem mangele es an Evidenz. Hinter den Ideen des Ministeriums, auf Check-ups und die Einnahme von Statinen zu setzen, stünden „aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht viele Fragezeichen“, so Josef Hecken, der Vorsitzende des G-BA.
Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit seien bisher nicht systematisch überprüft worden, monieren Hecken und andere G-BA-Mitglieder. Dabei werden Nutzen und Risiken der Früherkennung bei Kindern wie auch der Einsatz von Statinen gerade bewertet; der Auftrag wurde im Februar 2024 erteilt. Mit der Gesetzesvorlage werde „Ergebnissen von Prüfprozessen vorgegriffen, die beim G-BA bereits laufen“, so Hecken.
Aus Sicht des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM) stellt ein Großteil der geplanten Neuregelungen „einen Affront gegenüber den Kerngedanken der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung dar“. Auch der Hausärzteverband lehnt „immer mehr Tests und eine Medikamentenvergabe per Gießkannenprinzip klar ab“. Das hier angewandte Prinzip „Viel hilft viel“ sei aus medizinischer Sicht zweifelhaft. Die Hausärzte finden es zudem „befremdlich“, wie detailliert der Gesetzgeber in ärztliches Handeln eingreifen will, etwa wann Statine zu verordnen sind. „Das ist nichts, was eine staatliche Behörde zu entscheiden hat.“
Die pharmakritische Ärzteinitiative Mezis („Mein Essen zahl‘ ich selbst“) kritisiert den Gesetzentwurf als „überflüssig und pharmafreundlich“. Bei fehlenden Langzeitdaten sei das geplante Gesetz „ein neuerliches Geschenk an die Pharmaindustrie, denn durch überflüssiges Screening werden zwei Millionen Menschen krank gemacht und sollen nach Plänen des Bundesgesundheitsministers lebenslang Cholesterinsenker schlucken“. Präventionsangebote, die in jüngeren Altersgruppen positive Effekte auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit haben, wie ein Verbot von Tabak- und Alkoholwerbung, eine Zuckersteuer, vorbeugende Maßnahmen gegen Adipositas und Armut, würden hingegen fehlen.
Viele Kardiologen stehen der Ausweitung der Statin-Therapie positiv gegenüber
Ähnlich gute Evidenz wie für Statine gibt es für körperliche Aktivität. Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie kritisiert denn auch, dass der Entwurf „in entscheidenden Punkten nicht weit genug geht und die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu sehr auf den Einsatz von Medikamenten reduziert“. Die größten Defizite lägen in Deutschland in der Verhältnisprävention. Darunter fällt etwa, dass Tabakwerbung erlaubt ist und eine allgemein verständliche Kennzeichnung gesundheitsschädlicher Lebensmittel nicht umgesetzt wurde. Auch die Förderung eines bewegungsorientierten Lebensstils weise erhebliche Defizite auf, wie der spärliche Sportunterricht in Schulen zeige.
In den vergangenen Jahren hat sich zudem gezeigt, wie stark psychosoziale Faktoren wie Depression, Einsamkeit und Traumafolgestörungen der Herzgesundheit schaden. Diese Risikofaktoren sollten in das Screening aufgenommen werden. „Prävention darf nicht erst mit der Verordnung von Medikamenten beginnen, und sie darf auf keinen Fall dort enden, wo Lobbyinteressen bedroht sind“, so die Ärzte für Psychosomatik.
Der Kritik begegnet ein Sprecher des Gesundheitsministeriums auf Anfrage mit dem Hinweis, dass die Neuerungen „aufgrund der besonderen Bedeutung der Früherkennung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen schnellstmöglich in der Versorgung greifen sollten. Deshalb die gesetzliche Regelung.“ Dem Vorwurf mangelnder Evidenz und Expertise widerspricht das Gesundheitsministerium mit Hinweis auf „einschlägige Fachgesellschaften“, von denen die Vorschläge „sorgfältig und kompetent auf ihre Evidenz geprüft und bewertet“ wurden. In der Tat stehen etliche Kardiologen der Ausweitung der Statin-Therapie positiv gegenüber.
Auch der Vorwurf, „pharmafreundlich“ zu sein, treffe nicht zu, die frühen Check-ups sollen es laut Gesundheitsministerium „gerade ermöglichen, frühzeitig mit der Behandlung – sowohl nicht-medikamentös als auch medikamentös – von bestehenden Krankheiten zu beginnen“. Bestimmte Erkrankungen wie die Familiäre Hypercholesterinämie seien aber nicht durch gesunde Ernährung und Bewegung zu behandeln. Für Betroffene sei es entscheidend, dass die Erkrankung frühzeitig – bereits im Kindes- und Jugendalter – erkannt und „individuell nach Indikation“ medikamentös behandelt werden könne. Sonst bestehe die Gefahr, bereits jung an Herzinfarkt zu sterben. Prävention bleibe demnach ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Beratung und die Förderung eines gesunden Lebensstils weiterhin Grundlage der Herz-Kreislauf-Prävention.
Bleibt die Frage, ob sich Ärzte, Wissenschaftler und Ministerialbeamte bis zum Inkrafttreten des Gesetzes – frühestens 2025 – auf die beste Präventionsstrategie einigen können. Am besten in einem Ein-Herz-und-eine-Seele-Gesetz.