Süddeutsche Zeitung

Medizin:Erkältung und Grippe - der Preis der Nähe

  • Der wichtigste Grund für die Häufung von Grippe und Erkältung im Winter: Menschen verbringen mehr Zeit in geschlossenen Räumen und überfüllten Bahnen.
  • Wenn es kalt wird, halten sich zudem die meisten Viren länger, sie sind in trockener Luft stabiler und können die Menschen besser anstecken - und plötztlich sind beinahe alle krank.
  • Dabei ist längst nicht jede Erkältung eine Grippe - und auch der Einfluss der Kälte auf beide Leiden wird kolossal überschätzt.

Von Werner Bartens

Etliche Verluste sind zu beklagen. Das gepflegte Taschentuch aus feinem Stoff, mit Monogramm oder Spitze, befindet sich seit Jahren auf dem Rückzug. Statt als diskretes Zeichen für Stil und Manieren gilt es mittlerweile als fiese Keimschleuder in der Hosentasche. Vorbei die Zeiten, in denen François Truffaut seinen schniefenden Filmhelden nach einem Taschentuch fragen und auf das Angebot eines Kleenex empört entgegnen ließ: "Nein, nein, ich schnäuze mich niemals in Papier."

Wer heute so reagieren und das Wegwerf-Taschentuch ablehnen würde, hätte schnell den Ruf als Sonderling weg. Er wäre zudem eine ähnliche Rarität wie der Galan, der wie zur Goethe-Zeit noch das - möglichst blütenweiße - Stofftaschentuch mit Spitze als gut gehütetes Liebespfand und erotischen Wink benutzen würde. Othello wurde aufgrund eines verlorenen Taschentuchs gar zum Mörder der Geliebten.

Aber das ist vorbei. Heute gelten Sauberkeit und Hygiene als höchstes Gut. Der eingängige Werbeslogan "Wisch und weg" bringt es auf den Punkt. Statt edler Fazinetel mit Monogramm sieht man allenthalben benutzte Papiertaschentücher die Müllbehälter in Bahnen, Bussen und Büros verstopfen. Der Rotz hinterlässt seine unansehnlichen Spuren im öffentlichen Raum. Aber vielleicht ist die schnelle Entsorgung auch gut so, wenn die nächste Grippewelle droht und sich Menschen mit Triefnase und bellendem Husten von einem Infekt zum nächsten röcheln. Dann ist die Wahl Krankheit oder Kultur womöglich nicht mehr so wichtig.

Zu viel Zeit in geschlossenen Räumen und überfüllten Bahnen

Im Winter stellt sich die Frage allerdings drängender. Das hat eine Reihe von Gründen: Wenn es kalt wird, halten sich die meisten Viren länger, zudem sind sie in trockener Luft stabiler und können die Menschen besser anstecken. Zugleich sind die Atemwege in der kalten Jahreszeit anfälliger, und die Abwehrkräfte haben im Winter weniger gegen mikrobielle Eindringlinge zu bieten als im Sommer.

Der wichtigste Grund für die Häufung von Grippe wie von Erkältungsleiden ist allerdings, dass Menschen im Winter mehr Zeit in geschlossenen Räumen und überfüllten Bahnen verbringen, die noch dazu schlecht belüftet sind. "Schließlich muss für das Entstehen einer Grippewelle erstens eine genügend große Anzahl an empfänglichen Personen in der Bevölkerung vorhanden sein und zweitens bei den oben genannten Bedingungen ein genügend großer Eintrag an infektiösen Patienten in die empfängliche Bevölkerung erfolgen", schreibt das für Seuchenschutz zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) in dürrer Wissenschaftsprosa.

100 Erreger

und mehr können Erkältungen hervorrufen. Zu den Symptomen zählen Halsschmerzen, Schupfen, Heiserkeit und Husten, seltener indes erhöhte Temperatur oder gar Fieber. Solche sogenannten "grippalen Infekte" verlaufen meist harmlos. Die echte Grippe wird indes von einem der vielen Influenza-Viren verursacht. Die Krankheit beginnt meist plötzlich, ist begleitet von Fieber, Kopfweh und Gliederschmerzen oft auch Reizhusten. Aber längst nicht alle Infizierten müssen auch alle Symptome zeigen.

Dabei ist längst nicht jede Erkältung eine Grippe - und auch der Einfluss der Kälte auf beide Leiden wird kolossal überschätzt. Ein "grippaler Infekt" hat mit der echten Grippe, der Influenza, nichts zu tun. Die Leiden werden von verschiedenen Erregern verursacht, die Grippe durch Influenza-Viren, die jedes Jahr die Maskerade wechseln und deshalb schwer zu erwischen sind. Sie geht oft mit einem heftigen Krankheitsgefühl einher, dazu kommen Gliederschmerzen, Ermattung für ein bis zwei Wochen und manchmal quälender Reizhusten.

"Während ein Drittel schwere Symptome hat, geht die Grippe bei einem weiteren Drittel mit Beschwerden wie bei einer Erkältung einher - und ein Drittel hat kaum Symptome", sagt Udo Buchholz, der für das RKI Atemwegserkrankungen erforscht. Bei älteren Menschen und chronisch Kranken kann als Komplikation eine Lungenentzündung entstehen und zu lebensbedrohlichen Verläufen führen.

Zu einer Erkältung, dem klassischen grippalen Infekt, können Hunderte verschiedener Erreger führen. Daran beteiligt sind zumeist Rhinoviren, Coronaviren oder ein Virus mit dem einschüchternden Namen Humanes Respiratorisches Synzytial-Virus, kurz RSV. Die Symptome klingen indes nur allzu bekannt: Husten, Schnupfen, Heiserkeit sind die typische Trias; Fieber kommt selten hinzu, und nach ein paar Tagen sind die Beschwerden oft wieder verschwunden. Lästig, aber in den meisten Fällen nicht bedrohlich.

Und deswegen der Einwegtaschentuch- und Hygiene-Eifer? Lohnt dafür der ganze Aufwand mit Mundschutz, Verzicht auf Händeschütteln und anderen Gesten der Distanzierung, um ein paar gemeine Keime fernzuhalten, von denen man ohnehin nie genau weiß, ob sie einen diesmal erwischen oder die eigene Konstitution robust genug ist, um das infektiöse Geschwerl gerade noch abzuwehren?

Oder ist es ein akzeptabler Preis der Nähe, gelegentlich aufs Lager gestreckt zu werden von Viren und Co., dafür aber Höflichkeit, Anstand und einen gewissen Stil zu wahren? Wie sich die Menschen schützen können, wird ja in jedem Winter aufs Neue wiederholt. Das RKI empfiehlt: "Enge Kontakte zu anderen Menschen möglichst vermeiden oder mindestens zwei Meter Abstand halten." Aber will man das, seinen Liebsten nur noch mit Distanz begegnen? Statt menschliche Nähe zu erfahren, muss man sich gerade in diesen besinnlichen Tagen anhören, welche Spitzengeschwindigkeit (bis zu 150 Kilometer pro Stunde) und Reichweite (bis zu fünf Meter) die Keime bei einem ordentlichen Niesauswurf erzielen können.

Hygiene als sozialer Spaltpilz?

RKI-Mann Buchholz kennt zwar keine Daten, die den Nutzen eines Mundschutzes in der Öffentlichkeit belegen, in der Familie hingegen schon. "Wenn jemand im Haushalt die Grippe hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit für die anderen rund 20 Prozent, ebenfalls zu erkranken", sagt der Forscher. "Frühe und gewissenhafte Anwendung des Mundschutzes kann dieses Risiko um bis zu 60 Prozent senken."

Außerdem schreibt die Hygiene-Doktrin der Sitten- und Seuchenwächter vor, sich ausführlich die Hände mit Seife zu waschen, wenn man nach Hause kommt, vor dem Essen oder nach ausgiebigen Sozialkontakten trotz Distanzgebot. Nein, besondere Desinfektionsmittel sind dazu nicht nötig. Weiterhin sollte beim Niesen der Keimausstoß nicht in die Hand, sondern in die Ellenbeuge gelenkt werden und dem anderen nicht die Hand gereicht werden, sofern man gerade infektiös ist.

Treibt der Infektionsschutz die Menschen auseinander und verstärkt in der kalten Jahreszeit die Kälte untereinander? Hygiene als sozialer Spaltpilz? Was wird aus dem Begrüßungskuss, wie sollen sich Paare denn sonst halten, wenn nicht an den Händen? Schön ist das alles nicht und meistens auch stillos - oder wer hat je bei einem Erkältungsleidenden die elegante Niesattacke in die Ellenbeuge gesehen?

Dabei hat die Grippesaison noch gar nicht begonnen. Üblicherweise geht es im Januar los. Udo Buchholz leitet das Projekt Grippeweb. Seit 2011 haben sich 12 000 Teilnehmer registriert und berichten regelmäßig. So haben sich in der vergangenen Kalenderwoche 49 immerhin 3592 Teilnehmer gemeldet; 252 gaben Atemwegsbeschwerden an, das sind 6,5 Prozent. Bei 32 (entspricht 0,8 Prozent) klassifizierten die Forscher grippeähnliche Symptome. "Wir haben direkt Kontakt zur Bevölkerung und bekommen Informationen, auch wenn die Leute nicht zum Arzt gehen", sagt RKI-Forscher Buchholz. "Und die Teilnehmerzahl liegt über jenen der Sonntagsfrage oder vergleichbarer Erhebungen."

Noch bleibt also Zeit, sich auf die nächste Grippewelle vorzubereiten. Vielleicht ist auch schlicht ein kultureller Wandel nötig. Im 18. Jahrhundert wurde es für die gehobenen Stände in Europa peinlich, sich weiterhin bei Tische zu schnäuzen oder anderswo in der Öffentlichkeit seinem Körperfluss freien Lauf zu lassen. Noch ist es Alltag, in voll besetzten S-Bahnen angeprustet und vollgeniest zu werden, manchmal ohne dass eine schützende Hand oder gar der Ellenbogen die Keimexplosion abbremst. In Südostasien und Japan gilt es hingegen als unschicklich, sich überhaupt im Beisein anderer zu schnäuzen. Dort entspricht es einem hohen Maß an Körperbeherrschung, den Nasenschleim mit einem kehlig-wohligen Rotzlaut hochzuziehen. Das ist akustisch gewöhnungsbedürftig, aber auf jeden Fall eine saubere Lösung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3793338
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.12.2017/fehu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.