Medizin:Ein Leben, zweimal Krebs

Organtransplantation während einer Operation

Organempfänger haben nach der Transplantation ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken.

(Foto: Jan-Peter Kasper/dpa)
  • Menschen, die ein Organ transplantiert bekommen haben, leben mit einem zwei- bis sechsfach erhöhten Risiko, Krebs zu bekommen.
  • Das erhöhte Krebsrisiko unter Transplantierten fällt erst jetzt auf, weil sie dank medizinischer Fortschritte länger leben.
  • Den Hauptgrund für die Krebsepidemie sehen Mediziner in den Medikamenten, die solche Patienten zeitlebens nehmen müssen.

Von Susanne Donner

Rudi Braun bemerkte den Tumor auf seiner Zunge erst, als er nicht mehr schlucken konnte. Das war im Jahr 2016. Die Untersuchung zeigte zwar, dass er gutartig war, doch er musste raus, sonst hätte der damals 77-Jährige bald nichts mehr essen können. Die Chirurgen rieten zur Bestrahlung. Es sei ein sehr seltener Tumor, sagten sie noch.

Schon oft lag Rudi Braun im Krankenhaus. Als er 18 Jahre alt war, rammte ihm ein Mitspieler beim Handball aus Versehen den Ellbogen in die Flanke. Sein Harnleiter wurde verletzt. In der Folge verlor er eine Niere. Nach Jahren an der Dialyse spendete ihm seine Frau eines ihrer beiden gesunden Organe. Im Jahr 2005 bekam Braun dann Prostatakrebs. Die Chirurgen schnitten das befallene Organ heraus. 2016 dann der Tumor an der Zunge.

Zwei verschiedene Tumorarten in wenigen Jahren - das ist nicht untypisch für Organempfänger. Transplantierte haben ein zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko, Krebs zu bekommen. Es gibt eine Fachgesellschaft, die dazu Daten sammelt, die "International Society for Heart and Lung Transplantation". Demnach entwickelt jeder dritte Organempfänger innerhalb von zehn Jahren nach der Transplantation einen Tumor. Auf die Lebenszeit gerechnet sei es sogar mehr als jeder Zweite, schrieb die Kinderkrebsspezialistin Alexandra Borst von der Duke University in North Carolina 2017 im Fachblatt Pediatrics. "Das ist dramatisch und wird zu wenig beachtet."

Das erhöhte Krebsrisiko unter Transplantierten fällt mehr und mehr auf, weil sie dank medizinischer Fortschritte länger leben. Wirksame Medikamente erhalten das gespendete Organ länger. Ein wachsender Anteil der Empfänger stirbt nicht mehr an Transplantatversagen, sondern an Krebs. Bei diesen Patienten ist die Diagnose besonders schlimm, denn der Tumor "wächst schneller, streut häufiger und ist aggressiver. Die Patienten überleben seltener", sagt die Transplantationschirurgin Vivan Hellström von der schwedischen Universität Uppsala. Sie hat über die Problematik promoviert.

Nieren- und Lungenkrebs sind bei Transplantierten etwa doppelt so häufig

Verglichen mit der Normalbevölkerung ohne Spenderorgan ist besonders das Risiko für Haut- und Lippenkrebs, für Lymphome und Tumoren an den Geschlechtsorganen erhöht, teils bis zu hundertfach. Nieren- und Lungenkrebs kommen bei Organempfängern etwa doppelt so häufig vor. Und eben auch sehr seltene Wucherungen fallen in den Datenbergen auf, etwa Tumore an der Zunge wie bei Rudi Braun.

Den Hauptgrund für die Krebsepidemie sehen Mediziner in den Medikamenten, die Transplantierte zeitlebens nehmen müssen. Damit die Körper der Patienten das fremde Organ nicht abstoßen, müssen Arzneien ihre Abwehrkräfte dämpfen. Doch auch wenn sie die Medikamente nur über einen begrenzten Zeitraum nehmen, etwa nach einer Knochenmarkspende, treibt das die Krebsgefahr massiv in die Höhe: Sie liegt auch bei diesen Patienten mindestens doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung, berichtete die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH.

Die Medikamente schwächen das Immunsystem derart, dass Tumore wuchern können

Neben den Tabletten könnten auch akute oder chronische Abstoßungsreaktionen nach der Transplantation das Immunsystem schwächen. Auch das begünstigt die Entstehung von Krebs. Eine geschwächte Immunabwehr macht es einem Tumor in zweierlei Hinsicht leicht. Das Immunsystem erkennt normalerweise die meisten Krebszellen im Körper in einem frühen Stadium und bekämpft sie. Vor allem die Killerzellen im Blut übernehmen diese Aufgabe. Sie erkennen die kranken Zellen an veränderten Signalmolekülen auf deren Hülle und vernichten sie. Doch wenn die Körperabwehr gedrosselt wird, lahmt die Krebspatrouille. Ein Tumor kann leichter entstehen und wachsen. Das erklärt auch, weshalb Forscher immer wieder ein ungeheuerliches Wachstum bestehender Tumore beobachten, wenn sie Patienten mit Spenderorgan sehr hohe Dosen an immununterdrückenden Medikamenten geben müssen. Das ist zum Beispiel nötig, wenn der Körper plötzlich anfängt, das fremde Organ abzustoßen.

Dazu kommt, dass auch Viren und Bakterien wie Helicobacter pylori bösartige Wucherungen anstoßen können. Gegen ein gedämpftes Immunsystem haben sie leichtes Spiel. Das Epstein-Barr-Virus zum Beispiel lässt sich bei 95 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Blutzellen nachweisen, in denen es sich einquartiert hat, ohne Schaden anzurichten. Durch die Immunsuppression nach einer Transplantation erwacht der Keim jedoch mitunter und löst Krebs in den Lymphdrüsen aus: das Non-Hodgkin-Lymphom.

Besonders gefährlich ist das für Kinder, die ein Organ bekommen. 200-mal so häufig trifft sie dann der Lymphdrüsenkrebs, verglichen mit Gleichaltrigen. In den Industrienationen steigt seit Jahren die Zahl der Non-Hodgkin-Lymphome. Diese Epidemie lasse sich in den USA zu einem Teil schlicht darauf zurückführen, dass immer mehr Kinder mit Organfehlbildungen ein Transplantat bekommen, fand die Epidemiologin Elizabeth Yanik von der Washington University School of Medicine 2017 heraus. Hinzu kommt ein weiteres Problem, auf das Eric Engels vom National Cancer Institute in Rockville hinweist: Es gibt immununterdrückende Medikamente, die das Erbgut attackieren und so das Krebsrisiko zusätzlich in die Höhe treiben.

Die Krebsgefahr für Transplantierte lässt sich nicht ohne Weiteres umgehen. "Transplanting a problem with another problem" überschrieb Kinderkrebsspezialistin Alexandra Borst in einem Fachaufsatz die Misere. Man ersetze ein Problem durch ein anderes. Die modernen immununterdrückenden Arzneien seien so wirksam, dass sie den Empfängern Lebenszeit schenken, aber die Krebszellen außer Kontrolle geraten, sagt die schwedische Transplantationschirurgin Hellström. "Wir müssen mit der Dosis herunter", fordert sie. "Das ist ganz schwierig", entgegnet Thorsten Feldkamp, Nierenspezialist vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel. Damit steige die Gefahr, dass die Körperabwehr sich gegen das verpflanzte Organ richtet und es vernichtet. Wenn das Transplantat verloren geht, ist das für den Träger immer lebensbedrohlich.

"Wir müssen Organempfänger engmaschig untersuchen"

Die Krebsepidemie unter Organempfängern ist der Preis für die Fortschritte in der Transplantationsmedizin. Einerseits bekommen die Patienten immer mehr Lebensjahre geschenkt, weil die Medikamente effektiver wirken. Andererseits schwächen ebendiese Pillen ihr Immunsystem derart, dass sie mehr als doppelt so oft an Krebs erkranken.

Man wüsste besser mit dem Dilemma umzugehen, wenn es in Deutschland wenigstens ein Register mit allen Empfängern und deren Gesundheitsdaten gäbe. "Das wäre ein Riesenschritt nach vorne", so Feldkamp. Momentan müssen die wenigen Forscher, die den Zusammenhang zwischen Organverpflanzung und Krebs erforschen, mühsam verschiedene Datensätze zusammenführen.

Den Patienten, die auf ein Organ warten, bieten die Ärzte vor der Verpflanzung üblicherweise einen umfangreichen Krebscheck an, damit nicht schon ein Tumor da ist, der dann stark wächst. Nach der Operation sollen Patienten mit einem Spenderorgan regelmäßig zum Hautarzt, um sich auf Melanome absuchen zu lassen. In die Sonne dürfen sie nur mit Sonnencreme oder bedeckter Haut. "Wir müssen Organempfänger engmaschig untersuchen und, wenn etwas auftritt, sehr schnell behandeln", erklärt Feldkamp. Das nimmt einigen Patienten hoffentlich die Angst. "Es kam einmal vor, dass sich ein Patient aus Furcht vor Krebs gegen eine Transplantation entschieden hat", erzählt Feldkamp. Der Betroffene zog die Dialyse, die Blutwäsche an einer Maschine, vor.

Den meisten geht es aber wie Rudi Braun. Die Aussicht auf ein Leben mit einem neuen Organ, auf Mobilität, statt dreimal pro Woche je fünf Stunden auf einer Dialysestation zu liegen, bestärkte ihn. Trotz des zweiten Tumors hat er den Entschluss nie bereut.

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