Nanotechnologie:Doktor im Blut

  • Nanomediziner entwickeln winzige Geräte, die durch den Blutstrom des Patienten navigieren.
  • Sie sollen Medikamente dort freisetzen, wo sie gebraucht werden.
  • Besonders nützlich könnte das beim Kampf gegen Tumore, Blutgerinnsel oder Netzhaut-Erkrankungen sein.

Von Christian J. Meier

Die Idee ist alt, bereits 1966 navigierte in dem Hollywood-Film "Die fantastische Reise" ein geschrumpftes U-Boot samt Besatzung durch die Adern eines Patienten. Es sollte in dessen Gehirn ein inoperables Blutgerinnsel herauslasern. Neu ist, dass seit einigen Jahren Mediziner und Ingenieure solche Visionen tatsächlich umsetzen wollen, etwa in einem Labor an der Universitätsklinik in Erlangen. Dabei sieht es hier nicht gerade wie in einer Werkstätte für medizinische Visionen aus, eher wie in einem ganz normalen Behandlungsraum: Patientenliege, wuchtige Apparate und Monitore, auf denen Röntgenbilder eines Blutkreislaufs zu sehen sind.

Hier arbeitet der Mediziner Christoph Alexiou an Winzlingen, die Krankheiten von innen eliminieren sollen. "Ich will das in den Patienten bringen", sagt der Leiter der Sektion für experimentelle Onkologie und Nanomedizin. In wenigen Jahren möchte er in klinischen Tests mit einer Art Lenkwaffe in Virusgröße Tumore zerstören. Auch Arteriosklerose und Sepsis nimmt das Erlanger Team ins Visier.

"Zwar wird die Operation der Goldstandard der Krebsbehandlung bleiben", sagt Alexiou. Doch lassen sich Tumore nicht immer mit dem Skalpell beseitigen, etwa weil sie im Gehirn liegen. Ins Blut injizierte Krebsmedikamente erreichen zwar den Krankheitsherd. Aber nur ein kleiner Teil davon. Das meiste verteilt sich im ganzen Körper. Chemotherapien haben daher oft massive Nebenwirkungen.

Dieser Schrotflinten-Ansatz störte den Medizinpionier Paul Ehrlich bereits 1907. Er wollte am liebsten "magische Kugeln gießen, die nur den Krankheitserreger treffen". Zu diesen Zeiten war das ein ferner Traum. Erst knapp 80 Jahre später plante der amerikanische Ingenieur Eric Drexler Roboter von der Größe weißer Blutzellen. Ein Bordcomputer sollte diese "Zellreparaturmaschinen" durch den Blutstrom steuern, dank Sensoren Krankheitsherde erkennen, zum Beispiel eine Ablagerung in einem winzigen Gefäß im Gehirn, und diese mit Werkzeugen entfernen, die nicht größer sind als ein Molekül. Auch dieses Vorhaben blieb eine Vision.

"Statt eine Maschine mit Intelligenz auszustatten, nutzen wir die Logik der Biologie."

Zwar bauen Forscher heute Antriebe, Fühler oder Roboterarme, die so winzig sind, dass für sie das flüssige Innere einer Zelle einem Badesee gleicht. Doch ein Bordcomputer von wenigen Nanometern (Millionstel Millimeter) Größe, der in der Lage wäre, ein komplexes Gerät aus solchen Bauteilen zu steuern, ist immer noch nicht in Sichtweite. Aber heutige Forscher setzen ohnehin nicht mehr darauf, Roboter auf Nanogröße zu schrumpfen. Das erscheint ihnen viel zu umständlich.

"Wir wollen die Komplexität stark reduzieren", sagt Volker Mailänder, Arzt und Wissenschaftler an der Universitätsmedizin Mainz sowie am dortigen Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Nur so lasse sich die Technologie in absehbarer Zeit in den klinischen Alltag bringen. Der Ansatz des Teams um Mailänder und die Chemikerin Katharina Landfester ist dennoch trickreich: Die Forscher füllen winzige Kunststoffkapseln mit dem Krebsmedikament und injizieren sie in den Körper. Die Nanopartikel sollen die Krebszellen dann von selber finden.

Dazu überzieht das Team die Partikel mit sogenannten Antikörpern. Jedes dieser Moleküle ähnelt einem Schlüssel. Das dazu passende Schloss ist ein Protein, das allein die Tumorzellen an ihrer Oberfläche tragen. Begegnen sich die beiden Biomoleküle zufällig, dann verbinden sie sich. Das Partikel hat sein Ziel erreicht, dringt in die Krebszelle ein und gibt dort seine tödliche Fracht ab. Das erinnert ein bisschen an Paul Ehrlichs "magische Kugeln", denn an gesunden Zellen schwimmen die Nanopartikel ein vorbei. Volker Mailänder bringt die Taktik auf den Punkt: "Statt eine Maschine mit Intelligenz auszustatten, nutzen unsere Partikel die Logik der Biologie."

Medikamente regnen auf das Blutgerinnsel herab

Es ist eine bestechende Idee, die sich jedoch nur in mühsamer Kleinarbeit umsetzen lässt. Sechs Jahren forschte etwa das Mainzer Team, um nur eine von vielen Hürden zu überwinden. Ein Problem war, dass Proteine im Blut sich über die Nanopartikel legten und so die meisten Antikörper - also die Krebssensoren - verdeckten. So würden die meisten Teilchen ziellos durch den Körper irren. Die Forscher fanden dann heraus, dass viele der Y-förmigen Antikörper nicht aufrecht auf ihrem "Stiel" an das Partikel gebunden waren, sondern quer lagen. Senkrecht würden sie aus der Proteinhülle herausragen. Erst mit einigen Tricks gelang es den Mainzer Wissenschaftlern, die meisten Antikörper aufzurichten, nun störten die Proteine nicht mehr. Die Nanomedikamente sollen schon bald im Tierversuch getestet werden.

Nanomediziner wollen aber nicht nur Krebs bekämpfen. Auch andere Krankheiten senden Signale, die von simplen Nano-U-Booten erspürt werden können. Eine Art Stausensor, der Engstellen in Blutgefäßen anzeigt, haben Forscher um Donald Ingber von der Harvard University in Boston entwickelt. Blutgerinnsel verursachen Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Lungenembolien. Zwar gibt es Medikamente, sogenannte Thrombolytika, die sie auflösen können. Doch diese Substanzen haben manchmal schwere Nebenwirkungen, etwa Hirnblutungen. Also suchen Mediziner nach Arzneien, die direkt am Pfropfen wirken. Die Bostoner Forscher haben deshalb Nanopartikel aus Milchsäure mit einem Thrombolytikum überzogen. So entstehen lockere Klumpen, die wie feuchte, relativ zerbrechliche Sandbälle durchs Blut schwimmen.

100 Nanometer

groß darf eine Struktur höchstens sein, damit sie noch zum Bereich der Nanotechnologie gerechnet wird, ein Nanometer ist ein Milliardstel Meter. In diesen Größenordnungen gewinnen die Eigenschaften der Oberfläche an Bedeutung. So gibt es bereits jetzt Beschichtungen, die sich selber reinigen (Lotuseffekt) oder zum Beispiel Ketchup besser fließen lassen.

An Engstellen beschleunigt sich der Blutstrom. Das zerrt an den Partikel-Klumpen, sie werden eben wie Sandkugeln zwischen Fingern zerrieben. Die einzelnen Nanopartikel regnen auf den Pfropfen nieder, und die Wirkstoffe können ihre Arbeit erledigen. Im Tierversuch zeigte Ingbers Team, dass ihr mobiles Druckmessgerät Blutgerinnsel gezielt auflöste. Weil dafür nur ein Tausendstel der üblichen Dosis reichte, sind gefährliche Nebenwirkungen weniger wahrscheinlich. Deshalb könnte das Nanomedikament ohne große Bedenken schon am Notfallort und nicht erst in der Klinik verabreicht werden, sagt Ingber - ein vielleicht lebensrettender Zeitgewinn.

Im Vergleich zu einem echten U-Boot sind Nanopartikel, die ihr Ziel erkennen, wenig selbständig. Ohne Antrieb und Lenkung verteilen sie sich im ganzen Körper, und nur ein winziger Anteil wird bis zum Krankheitsherd gespült. Die erhöhte Wirkung im Vergleich zur klassischen Chemotherapie kommt daher, dass jedes Partikel viel Wirkstoff mitführt: einen ganzen Lieferwagen voll statt nur eines Pakets. "Wir glauben, dass wir die Dosis für den Tumor verdoppeln können", sagt Mailänder. Aber auch dann erreichen nur wenige Prozent der Gesamtdosis ihr Ziel. Wenn die Ärzte den genauen Ort von Krebsmetastasen oder Blutgerinnseln kennen würden, könnten sie noch deutlich gezielter therapieren. Allerdings bräuchte man dann einen Antrieb und eine Steuerung für die Nano-Agenten.

Doch auch an solchen Vorhaben arbeiten Forscher bereits, etwa am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS) in Stuttgart. Auch sie orientieren sich am Vorbild der Natur, denn bislang kann noch niemand eine klassische Schiffsschraube in Nanodimension fertigen. Eine ihrer Ideen war es, Muscheln zu imitieren, die durchs Wasser rudern, indem sie ihre Schalen symmetrisch auf und zuklappen und dazwischen durchs Wasser gleiten.

Tatsächlich konnten die Wissenschaftler so einen mikroskopisch kleinen Schwimmer bauen. Leider gleitet er in den meisten Flüssigkeiten nicht - für ihn ist Wasser oder Blut so zäh wie Honig. Durch das Zuklappen würde er einen Schritt vorwärts tun, durch das Aufklappen einen zurück. So bleibt ein möglicher Einsatz speziellen Medien vorbehalten, etwa in der Gelenkflüssigkeit. Denn darin funktioniert ein Trick: Die Forscher steuern die Muschelschalen so, dass sie schnell aufgehen und langsam schließen. So wird die Flüssigkeit dünnflüssiger.

Alternativ zur Muschel nehmen sich die Forscher bestimmte Bakterien zum Vorbild. Diese schrauben sich mit einer korkenzieherähnlichen Geißel durch Flüssigkeiten. Winzige Korkenzieher lassen sich nanotechnologisch herstellen, indem eine rotierende Scheibe mit Atomen bedampft wird. Ein Magnet versetzt die Schrauben in Drehung. Dabei musste Tian Qiu vom MPI-IS feststellen, dass es dabei sehr auf die Größe ankommt. Der Physiker wollte ein solches Gefährt durch den Augapfel eines toten Schweins lenken.

Der Hintergrund: Bei der Behandlung von Makuladegeneration möchten Mediziner Medikamente möglichst gezielt auf die Netzhaut bringen. Die erste Version der Mikroschwimmer verfing sich im Netz aus Proteinfäden, die das Wasser im Augapfel durchwirkt. "Wir mussten die Schwimmer noch kleiner herstellen, damit sie durch die Maschen schlüpfen", sagt Qiu. Die neuen Schwimmer hielten auf die Netzhaut zu und trafen sie. Das Experiment ist allerdings erst mal nur ein Beleg, dass die Technologie prinzipiell funktionieren könnte. Außerdem verbietet derzeit bereits die aufwendige Herstellungstechnik den breiten Einsatz in der Klinik.

In der Nähe von Tumoren steigt der ph-Wert. Das lässt sich zur Navigation nutzen

Die Schraube bezieht ihre Energie von außerhalb - vom Magneten, der sie dreht. Andere Forscher versuchen, ihre Nano-U-Boote energieautark zu machen. "Mikroraketen" ziehen ihren Treibstoff direkt aus der Flüssigkeit, durch die sie schwimmen. Ein konisches Röhrchen ist mit einem Katalysator ausgekleidet, der eine chemische Verbindung aus der Umgebung umwandelt. Die dabei entstehenden Bläschen strömen aus dem weiten Ende aus und treiben die Rakete per Rückstoß an. Das kleinste derartige Projektil ist so winzig wie ein Virus.

Solche Nano-U-Boote sollen sich ähnlich wie Bakterien an Signalen ihrer Umwelt orientieren: der Schwerkraft etwa oder zunehmender Helligkeit. Außerdem senden Krankheiten chemische Botschaften aus, in der Nähe von Tumoren etwa steigt der ph-Wert. An frischen Knochenbrüchen entsteht ein elektrisches Feld, das elektrisch geladene Nanopartikel anzieht, wie im Reagenzglas gezeigt werden konnte.

Ein Röntgenbild der Blutgefäße nutzen die Ärzte als eine Art Straßenkarte des Körpers

Vom Einsatz im Patienten ist solche Grundlagenforschung noch weit entfernt. Etwas näher an der Praxis ist vielleicht ein anderer Ansatz, an dem Christoph Alexiou aus Erlangen arbeitet. Im Chemielabor seiner Abteilung zeigt ein Teammitglied, wie leicht sich Nanopartikel lenken lassen. Er hält ein Reagenzglas in der Hand, das zwei Flüssigkeitsschichten enthält: eine rostrote am Boden, eine durchsichtige darüber. Der Forscher hält einen Magneten an den unteren Teil und führt ihn an der Glaswand entlang. Die rote Flüssigkeit kriecht an der Wand hoch. Es sind magnetische Nanopartikel, die dem Magnetfeld folgen.

Als Kontrastmittel bei der Suche nach Metastasen werden solche Partikel bereits angewendet. Alexious Team aber will sie als Vehikel für Krebsmedikamente nutzen. Neben der Patientenliege im Labor nebenan, auf der bislang nur an Kaninchen und Körperspenden experimentiert wird, steht ein verstellbarer Elektromagnet: Antrieb und Lenkung für Alexious Nano-U-Boote. "Wir injizieren die Partikel nahe dem Tumor", erklärt der Arzt. Dann ziehen die Forscher sie mit der Kraft des Elektromagneten in die Gefäße der Geschwulst. Diese haben nämlich etwas größere Poren in ihren Wänden als normale Adern. Die Teilchen schlüpfen durch sie in das wuchernde Gewebe und laden ihre tödliche Fracht ab.

Dank der Lenkung landen mehr als 60 Prozent des verabreichten Wirkstoffs im Tumor, wie Tests an Kaninchen zeigten. Der Krebs verschwand bei fast einem Drittel der Tiere nach acht Wochen. Die Dosis des Krebsmedikaments war dabei 20-mal niedriger als bei einer normalen Therapie.

Um die Zielführung zu verbessern, nehmen die Forscher ein Röntgenbild der Blutgefäße auf, das sie wie eine Straßenkarte nutzen. "Wir bringen die Partikel mit einem Katheter an einen idealen Ort, um sie mit dem Magnet weiterzuführen", erklärt Alexiou. So wollen sie vermeiden, dass die Partikel eine falsche Abzweigung nehmen und den Tumor verpassen. Zudem soll ein neuer Roboterarm den Magneten mit höherer Präzision führen. "So hoffen wir, die Partikel noch stärker im Tumor anreichern zu können", sagt Alexiou. Eine offene Frage ist, wie sich die Nanopartikel in tief im Körper sitzende Geschwülste lenken lassen. Denn das Magnetfeld schwächt sich mit dem Abstand vom Magneten ab. Indem die Forscher die Form des Magneten variieren, wollen sie das Feld stärker konzentrieren, sodass es tiefer eindringt. In drei Jahren hoffen die Wissenschaftler, erste klinische Tests an Patienten auszuführen.

Die "fantastische Reise" durch den menschlichen Körper könnte also bald stattfinden. Dass Bedenken um die Giftigkeit von Nanopartikeln dies noch verhindern, glauben die Forscher nicht. "Eisenoxid-Nanopartikel sind gut verträglich", sagt Alexiou. Der Stoff werde vom Körper weiterverwertet. Auch Volker Mailänder beruhigt: "Wir fertigen die Partikel aus Stoffen, die der Körper ausscheiden kann."

Schließlich soll die Therapie nicht so enden wie in dem anfangs erwähnten Hollywoodfilm. In dem ließen die U-Boot-Chirurgen versehentlich ein Mitglied der Besatzung sowie das geschrumpfte U-Boot im Körper des Patienten zurück.

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