Medizin:Depressionen bei Ärzten: "Das Schlimmste ist die Hilflosigkeit"

Regen am Ammersee

Der Berufseinstieg bei jungen Ärzten wird meist von Angst überschattet.

(Foto: dpa)

Max Zucker arbeitet ein halbes Jahr als Assistenzarzt in der Chirurgie. Dann wird er schwer depressiv. Er ist kein Einzelfall. "Die Erkrankungszahlen sind inakzeptabel hoch."

Reportage von Felix Hütten

Es ist die dritte Stunde in dieser Nachtschicht, als Max Zucker seine Patientin in einem fensterlosen Behandlungsraum zum Schweigen brüllt. Die Schülerin ist dreizehn, an ihrer Stirn blutet eine Wunde. Sie will partout nicht, dass Zucker ihr eine Tackernadel in ihre junge Haut stößt.

Stell dich nicht so an, sagt Zucker heute leise, habe er damals geschrien.

Zucker presst ihr zartes Gesicht zwischen seine großen Hände. Er trägt Latexhandschuhe. Seine blauen Augen kommen dem Mädchen viel zu nahe. Es schreit vor Angst.

Max Zucker heißt eigentlich anders. Er will nicht erkannt werden - und er will seine Patienten schützen. Deshalb keine echten Namen. Nur so viel: Zucker ist 29 Jahre alt, seit sechs Monaten Chirurg in einem namhaften deutschen Krankenhaus. Wenn Zucker arbeitet, ist es draußen meistens dunkel. In ihm drin ist es immer finster. Wenn er seine Augen schließt, rast er mit einem Zug durch einen Tunnel. Die Neonröhren der OP-Säle rammen dann Licht in seinen Kopf, aber da ist kein Licht ihn im drin. Da ist nichts, wo er ist.

Viele junge Assistenzärzte sind depressiv. 21 bis 43 Prozent, sagt eine aktuelle Studie der Harvard Medical School in Boston.

Sind Sie depressiv, Herr Zucker?

Ich bin sehr müde.

Haben Sie jemals daran gedacht, sich umzubringen, Herr Zucker?

Nicht direkt.

Was heißt das?

Ich war so weit, mir einzugestehen, dass ich nie wieder als Arzt arbeiten kann.

"Die Ergebnisse zeigen, dass wir in der Medizin ein großes Problem haben", sagt Gesundheitswissenschaftler Thomas L. Schwenk von der University of Nevada in Reno, der einen Begleitkommentar zu der Harvard-Studie verfasst hat. In der Analyse, erschienen im Journal of the American Medical Association, haben US-amerikanische Wissenschaftler insgesamt 54 Studien zum Thema "Depression unter Assistenzärzten" ausgewertet. Mehr als 17 500 junge Ärzte wurden befragt, wie es um ihre psychische Gesundheit steht. Das Ergebnis der Auswertung ist erschütternd.

Ein Pünktchen in diesen kalten Zahlen

Je nach Erhebungsmethode leiden zwei von fünf Befragten an depressiven Symptomen oder gar einer Depression. Die Analyse hat Studien ausgewertet, die von 1963 bis 2015 in Europa, Asien, den USA, Afrika und Südamerika zu dem Thema erschienen sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die Krankheitsfälle unter jungen Ärzten besonders in ihrem ersten Berufsjahr steigen, unabhängig von Land oder Fachgebiet. Zucker ist ein Pünktchen in diesen kalten Zahlen. Er hält die Studie in seinen Händen, DIN A4, doppelseitiger Druck, sechs Seiten, Schweigen.

Vor einem Jahr absolvierte Zucker das Hammerexamen. So nennen Medizinstudenten die letzte große Prüfung vor der Approbation. Note 1,5.

Wenn Max Zucker in den Bergen wandert, dann sucht er sich Touren aus, die fünf Stunden bis zum Gipfel dauern. Er schafft den Aufstieg in zwei. In der Chirurgie gelten schwäbische Regeln: Nicht geschimpft ist genug gelobt. Zucker lacht darüber. Er ist der Typ Bulle, unverletzlich, nicht kleinzukriegen.

Genervt von schmerzverzerrten Gesichtern

Doch irgendwann kann Zucker nicht mehr laufen, der Weg zum Gipfel wird immer länger. Er kann nicht sagen, wann es losging. Denkt er an den Tunnel in seinem Kopf, ist da dieses Mädchen, seine Aggression gegen Patienten, die ihm nichts getan haben. Er ist genervt von schmerzverzerrten Gesichtern im OP-Saal, er fühlt nichts.

Andererseits, beim Nachtdienst in der Notaufnahme schickt Zucker Blutproben mit dem Label "eilig" ins Labor, auch wenn die Ergebnisse Zeit haben. Ist der Befund unklar, untersucht er noch mal. Er fragt Internisten um Rat, lässt röntgen, macht Ultraschall, die Schwestern verdrehen die Augen. Für ihn ist jeder Patient gleich krank, er macht keine Unterschiede, setzt keine Prioritäten. Bloß keinen Fehler machen.

Wochen vergehen so. Wenn Zucker von der Arbeit nach Hause kommt, ist er wie gelähmt. Die Oberärzte sind zufrieden, Zucker ist der motivierte, belastbare Assistent, der gerne auch mal zwei Stunden länger bleibt. In ihm drin rast der Zug in die Dunkelheit.

"Die Erkrankungszahlen sind inakzeptabel hoch"

Diskussionen über Depressionen bei Assistenzärzten beinhalten oft die Frage, wie man die Erkrankungszahlen anderer Berufsgruppen vergleichen sollte, schreibt Gesundheitswissenschaftler Schwenk. Vielleicht sind die Zahlen gar nicht so besorgniserregend, wenn sie ähnlich hoch sind wie bei Bäckern, Lehrern oder Journalisten? Doch solche Vergleiche sind nicht zulässig, sagt Schwenk. "Wenn so viele Assistenzärzte Symptome einer Depression zeigen, wohlgemerkt in einem Gesundheitsberuf, dann ist es egal, ob sie weniger oder stärker depressiv sind als andere. Die Erkrankungszahlen sind inakzeptabel hoch."

Die Analyse der Wissenschaftler aus Harvard versucht etwas in Zahlen zu fassen, was sich nur schwer messen lässt. Depression ist keine Schallwelle, es gibt nur wenige Sensoren für das, was junge Ärzte wie Max Zucker kaputtmacht.

Die Zahl der Depressionen ist im Verlauf des Untersuchungszeitraums gewachsen. Die Autoren der Studie geben zu bedenken, dass dieser Anstieg nicht unbedingt bedeutet, dass zwangsläufig mehr junge Ärzte unter einer Depression leiden. Ursache könnte vielmehr ein wachsendes Bewusstsein für das Problem sein.

Großteil der Daten basiert auf Fragebogen

Dies aber lässt sich mit den vorhandenen Studien nicht zweifelsfrei belegen. Die Harvard-Autoren kritisieren, dass ein Großteil der Daten auf Fragebogen basieren, nicht auf Interviews. Das birgt die Gefahr, dass die Befragten depressive Symptome falsch deuten, sie herunterspielen oder gar übertreiben.

Doch obwohl die Wissenschaftler Probleme mit den Daten aufdecken, haben sie keinen Zweifel am Grundergebnis: Depressionen unter jungen Ärzten sind ein Problem mit bislang unbekanntem Ausmaß. Die Analyse ist daher vor allem ein Appell, junge Ärzte vor Schlafmangel, ethischen Konflikten und zu hoher Verantwortung zu bewahren.

Es gibt Tage, da ist Max Zucker gefangen auf Station, da ist er alleine für 24 Patienten verantwortlich. Seit Wochen sind Facharztstellen in seiner Abteilung unbesetzt, deutschen Krankenhäusern fehlt das Personal. Zuckers Patienten sind schwer krank, die meisten alt, viele haben neben komplizierten Knochenbrüchen auch Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Bluthochdruck. Zucker ist Chirurg, in vielen Dingen ein Handwerker. Er ist mit manchen Patienten fachlich überfordert, er sagt das einfach so.

Das Schlimmste ist die Hilflosigkeit

Im Studium hatte er eine Vision, wie es später mal sein würde, Arzt zu sein. Er sagt "sein" - nicht: als Arzt zu arbeiten. Doch das, was Zucker täglich von 6:50 Uhr bis tief in den Abend und in den Nachtdiensten macht, hat damit wenig zu tun. Das Schlimmste, sagt er, ist die Hilflosigkeit.

Zucker arbeitet in einer Klinik der Maximalversorgung. Auf seine Station werden Spezialfälle eingewiesen. Er und seine Kollegen sind die Endstation, die letzte Hoffnung vieler Patienten. Er sieht sich in der Champions League der deutschen Hightech-Medizin. Eine enorme Fallhöhe. Die meisten seiner Patienten haben schon etliche Untersuchungen und OPs hinter sich. Für sie ist Zucker der letzte Arzt, hoffentlich. Und dann stehst du da, sagt er, hast keine Ahnung und kannst niemanden fragen - weil niemand da ist.

Nach ein paar Wochen auf Station wird Zucker krank, bekommt Bauchschmerzen und Durchfall. Drei Tage später schleppt er sich wieder auf Station. Als er ankommt, ist in ihm alles zu. Er blättert in Patientenakten, ohne sie zu lesen. Am nächsten Tag schreibt er eine Mail an die Personalabteilung: "Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin krank."

Das Ausbildungssystem für junge Ärzte braucht einen fundamentalen Wandel

Gesundheitswissenschaftler Thomas L. Schwenk schlägt drei Lösungen vor, mit denen es gelingen soll, jungen Ärzten wie Max Zucker zu helfen. Erstens: Mehr und bessere Psychotherapie für depressive Ärzte. Zweitens: Junge Ärzte sollten seltener Stressfaktoren ausgesetzt werden, die eine Depression begünstigen. Drittens: Das Ausbildungssystem für junge Ärzte braucht einen fundamentalen Wandel.

Genau den wünscht sich auch Max Zucker. Er wünscht sich, dass junge Ärzte nicht direkt von der Uni auf Station geschickt werden, einfach so, ohne Anleitung, ohne Zielrichtung. Niemand habe ihm gesagt, was von ihm erwartet wird, es gibt in vielen Kliniken in Deutschland keinen Ausbildungsplan, keine regelmäßigen Feedbackgespräche für Berufsanfänger. Viele seiner Kollegen seien orientierungslos, sagt Zucker. Ein Spielball im Kosmos Krankenhaus. Irgendwann schlägt dieser Ball zu hart auf - und platzt.

Max Zucker lässt sich in eine Klinik einweisen, acht Wochen ist er dort. Gruppentherapie, Einzelgespräche, Sport. Nach weiteren zwei Wochen Pause entschließt sich der 29-Jährige für eine Arbeitswiedereingliederung. Erst mal einen halben Tag, keine Nachtdienste, seine Oberärzte sind einverstanden.

Am Sonntag, bevor sein Dienst wieder beginnt, wird Zucker Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls. Er nennt es seinen Glücksmoment. Ein paar Hundert Meter vor ihm stürzt ein Motorradfahrer und bleibt verletzt liegen. Rechter Straßengraben, der Arm um 180 Grad verdreht, der Mann schreit vor Schmerzen. Zucker steigt aus seinem Wagen, untersucht den Motorradfahrer, ruft den Rettungsdienst. Dann sagt er zu ihm: "Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin Arzt."

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