Süddeutsche Zeitung

Medizin am Lebensende:"Die traditionelle Patientenverfügung muss als gescheitert gelten"

Zu wenige Menschen nutzen die Patientenverfügung sinnvoll. Experten wollen daher eine Kultur etablieren, in der schon in jungen Jahren über den letzten Lebensabschnitt gesprochen wird.

Von Werner Bartens

Im entscheidenden Moment ist sie nicht da. Oder niemand im Krankenhaus hält sich daran. Wie bei dem 79-Jährigen, der mit einer schweren Lungenentzündung in die Klinik kam und kaum noch ansprechbar war. Seine Patientenverfügung lag zwar im Nachttisch, doch weder Ärzte noch Pflegekräfte schenkten ihr Beachtung. Dabei ist der ältere Herr eine positive Ausnahme, denn immerhin besaß er eine Patientenverfügung. Je nach Erhebung haben nur zwölf bis 20 Prozent der älteren Menschen überhaupt ein entsprechendes Dokument erstellt.

"Die traditionelle Patientenverfügung muss als gescheitert gelten", bilanziert Jürgen in der Schmitten vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Düsseldorf. "Sie ist wenig verbreitet, bei Bedarf nicht zur Hand, selten aussagekräftig, von fragwürdiger Gültigkeit, und häufig wird sie vom medizinischen Personal nicht beachtet." Schmitten und der Münchner Medizinethiker Georg Marckmann setzen daher auf ein anderes Vorgehen, damit Menschen am Lebensende oder nach schweren Unfällen tatsächlich nach Wunsch versorgt werden: Advance Care Planning, was so viel bedeutet wie gesundheitliche Vorausplanung. Am Wochenende fand zu dem Thema in München erstmalig auf europäischem Boden ein Kongress statt.

Viele Menschen verstehen ihre eigene Patientenverfügung nicht

"Eine selbstbestimmte Gestaltung der Behandlung in der letzten Lebensphase erreichen wir mit der Patientenverfügung allein nicht", sagt Marckmann. "Es hapert an der Erstellung und an der Umsetzung. Viele Menschen verstehen nicht, was ihre Auswahl in der Patientenverfügung bedeutet."

Typische Missverständnisse bestehen beispielsweise darin, dass Menschen zunächst angeben, im hohen Alter keine lebensverlängernden Maßnahmen zu wünschen. Fragt man nach, ob das heiße, bei einer Lungenentzündung keine Antibiotika über die Vene zu verabreichen, entgegnen sie: Das natürlich schon. Sie wollen womöglich nur nicht mehr auf die Intensivstation, nicht mehr beatmet und nicht mehr wiederbelebt werden. "Auch bei einer Demenz gibt es verschiedene Phasen. Darüber muss man reden, man kann nicht verallgemeinern, welche Versorgung dann angemessen ist", sagt Marckmann. "In manchen Stadien der Demenz ist die Lebensqualität noch ganz ordentlich und dann sind die Bedürfnisse andere."

Advance Care Planning wird in Abgrenzung zur Patientenverfügung als lebenslanger Gesprächsprozess verstanden. Schon in gesunden Erwachsenenjahren besprechen und planen die Menschen, was im Krankheitsfall geschehen sollte - und was nicht.

Georg Marckmann, Jahrgang 1966, hat längst eine entsprechende Verfügung für sich erstellt. Man könne ja nie ausschließen, dass ein Unfall passiert. In den USA ist es offenbar nicht ungewöhnlich, dass gesunde Paare mit Mitte 50 festlegen, was im Alter und bei Krankheit für sie medizinisch angemessen ist. "Man muss mit dem Mythos aufräumen, dass Menschen nicht darüber reden wollen, wie sie sich ihr Lebensende vorstellen", sagt John Maycroft, der das Projekt "Honouring Choices" in Wisconsin koordiniert. "Außerdem ist es beglückend zu erleben, wie man Menschen begleiten und ihnen Ängste nehmen kann."

Im US-Bundesstaat Wisconsin, aber auch in Kanada und Neuseeland wurden schon in den 1990er-Jahren Programme gestartet, die dem Patientenwillen zu mehr Anerkennung verhelfen. Die Gesprächspartner werden "Facilitator" genannt, also Erleichterer oder Vereinfacher, schließlich sollen die Menschen nicht direktiv beraten werden. Es gelte gemeinsam zu erkunden, was sie sich in welcher Notlage vorstellen. "Man muss sich oft erst mal klar darüber werden, was die eigenen Vorstellungen und Werte sind, dann erst kann man die verschiedenen Möglichkeiten durchgehen", sagt Marckmann. "Es geht darum, Menschen dabei zu begleiten, wie sie für sich erkennen, was sie in medizinischen Krisensituationen möchten."

Die US-Krankenversicherung Kaiser Permanente etabliert ein entsprechendes Programm seit 2011 in Nordkalifornien. Dort haben 845 Begleiter bereits 50 000 Gespräche geführt. Projektkoordinator Daniel Johnson schildert auf berührende Weise, wie sein 87-jähriger Vater ihm kürzlich sagte, auch wenn sein Sohn Palliativmediziner sei, wolle er, dass alles medizinisch Mögliche für ihn getan werde, sogar wenn es mit Kabeln und Schläuchen auf der Intensivstation sein müsse. Wenige Wochen vor seinem Tod im Mai rief er dann seinen Sohn erneut zu sich, "man müsse die Papiere ändern", er wolle doch lieber in einem Hospiz sterben.

Von möglichen Interessenkonflikten muss die gesundheitliche Vorausplanung frei bleiben, auch wenn das nicht immer leicht ist. Durch eine intensive medizinische Betreuung am Lebensende entstehen schließlich Kosten, etwa für Krankenversicherungen - auf der anderen Seite kann man damit auch Geld verdienen, etwa in der Klinik oder im Pflegeheim. Deswegen ist es wichtig, dass die Gesprächsbegleitung offen und unabhängig bleibt und tatsächlich der Wille der Patienten im Vordergrund steht. "Die Qualifizierung der Gesprächsbegleiter ist viel aufwendiger als man sich das vorstellt", sagt Marckmann. "Wir alle haben ja Vorurteile und Einschätzungen, die im Gespräch mitschwingen."

In Deutschland gibt es bisher nur wenige Initiativen, um die gesundheitliche Vorausplanung stärker in der Medizin zu verankern. In der Schmitten und Marckmann haben im vergangenen Jahr im Rheinland in drei Seniorenheimen ein Programm etabliert, mit dem die Wünsche der Bewohner besser berücksichtigt und wichtige Fragen zum Lebensende geklärt wurden (Deutsches Ärzteblatt, Bd. 111, S. 50, 2014).

Kultureller Wandel gefordert

Das neue Hospiz- und Palliativgesetz wurde zwar im April dieses Jahres im Kabinett beschlossen und wird derzeit parlamentarisch beraten. Ein Impuls für Advance Care Planning sei das durchaus, da sind die Experten einig. Was mit den zusätzlichen Mitteln geschehen soll, ist jedoch unklar. "Mit einer zusätzlichen Stelle im Heim für 100 Bewohner ist es ja nicht getan", sagt Friedemann Nauck, der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. "Wir müssen sicher sein, dass die Qualität gewährleistet ist und wir dürfen die Rolle der Hausärzte nicht vergessen."

Zwar wird in Deutschland ein "kultureller Wandel" eingefordert. Klinikärzte und Hausärzte, Krankenpflege, Pflegeheime aber auch ambulante Pflegedienste - schlicht alle in der Medizin Beschäftigten sollten im Blick haben, dass Menschen sich frühzeitig darüber Gewissheit verschaffen, wie sie im Krankheitsfall oder der letzten Lebensphase versorgt werden wollen.

Doch wer geht voran? Nauck sagt, es gebe ja schon Palliativteams. Marckmann hält die Hausarztpraxis für den geeigneten Ort, an dem Menschen sich über ihre Vorstellungen klarer werden. Praxismitarbeiterinnen könnten als Gesprächsbegleiterinnen geschult werden. Erfolgreiche Programme in anderen Ländern sind bisher von den Ärztekammern oder Fachgesellschaften etabliert worden. "Das ist wichtig", sagt Marckmann. "Da übernimmt das Medizinsystem Verantwortung und die Initiative muss nicht - wie bisher bei der Patientenverfügung - von den Kranken ausgehen."

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SZ vom 16.09.2015
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