Medizin:Allergie aus Langeweile

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Auf der Concordia Station haben Forscher ein Jahr lang die dort lebenden Wissenschaftler untersucht. (Foto: dpa)
  • Wissenschaftler haben ein Jahr lang Mitarbeiter eines Forschungslabor in der Antarktis untersucht, um zu verstehen, wie sich der Körper an die extreme Umgebung anpasst.
  • Überraschenderweise pendelte sich das Immunsystem der Probanden nicht ein, sondern blieb äußerst reizbar - wie man es von Allergien oder Autoimmunerkrankungen kennt.
  • Als Ursachen werden Sauerstoffmangel und Stress vermutet.
  • Die Erkenntnisse der Studie sollen helfen zu verstehen, wie Allergien entstehen.

Von Felix Hütten

Der Mensch ist ein Gesellschaftstier, das ungern isoliert, in dunkler Kälte, fernab der Zivilisation und noch dazu mit wenig Sauerstoff lebt. Doch einen solchen Ort gibt es sehr wohl auf der Welt, und Menschen halten sich dort sogar freiwillig auf. Er heißt Concordia Station, ein Forschungslabor in der Antarktis auf 3233 Metern Höhe. Bis zu minus 85 Grad kalt wird es dort im Winter, knapp 1000 Kilometer sind es bis zur Küste, die Atemluft trägt 13 Prozent Sauerstoff, nicht 21 Prozent, wie sonst üblich. Es ist ein unwirklicher Ort, an dem im Winter keine Flugzeuge landen und es keinen Ausweg gibt, außer Durchhalten. In den Schränken lagern Leichensäcke, man weiß ja nie.

Die 14 Männer waren über Monate in der Station isoliert und eingeschlossen

Ein Internationales Konsortium aus Wissenschaftlern der Nasa, der Esa, dem deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum sowie Intensivmedizinern der Universität München haben dieses Setting nun genutzt, um ein Jahr lang 14 auf der Concordia lebende Wissenschaftler zu untersuchen. Ziel der Studie, vorgestellt in Fachblatt Allergy, sind Antworten auf die Frage, wie sich der Körper, oder genauer, das Immunsystem des Menschen an eine solche extreme Umgebung anpasst.

Diese Forschungsfrage mag etwas abseitig klingen, leben Menschen doch in der Regel weder auf Forschungsstationen, noch in derart extremen Sauerstoffbedingungen. In der Tat hat die Studie die Absicht herauszufinden, wie sich der menschliche Körper im Weltraum, sei es in einem Raumschiff oder eines Tages in einer Mondsiedlung, eigentlich verändert. Eine ähnliche Umgebung wie im All haben auf der Erde nur wenige Orte, darunter die Concordia Station. Die Chance, derart schwierige Umweltbedingungen an lebenden Menschen zu testen, wollten sich die Forscher nicht entgehen lassen. Zwar gibt es bereits zahlreiche Untersuchungen an Astronauten, doch sind diese wenig standardisiert und daher wissenschaftlich nur von begrenztem Wert.

Doch auch für Otto-normal-Menschen ist diese Forschung von Interesse, denn Sauerstoffmangel, Einsamkeit und schwierige Lebensverhältnisse gibt es auch auf Meereshöhe in grauen Großstädten und grünen Dörfern. Menschen mit schweren Lungenerkrankungen zum Beispiel leiden teils Jahre an zu wenig Sauerstoff. Auch für diese Patienten könnten die Ergebnisse der Studie eines Tages interessant werden.

Zurück aus der eisigen Einsamkeit wurden Pollen und Erdnussbutter zum Problem

Die Forscher um die Anästhesisten Alexander Choukèr und Matthias Feuerecker vom Universitätsklinikum München-Großhadern untersuchten das Blut ihrer Antarktisprobanden auf Stresshormone und Bestandteile des Immunsystems. In den ersten Wochen nach ihrer Ankunft auf der Forschungsstation erkrankten die untersuchten Eisforscher an meist harmlosen Infektionen, darunter Erkältungen und Magen-Darm-Verstimmungen. Ursache war stets ein geschwächtes Immunsystem, das die Erreger zunächst passieren lassen musste. Dieses Phänomen hatten die Forscher erwartet, da längst bekannt ist, dass ein kurzfristiger Sauerstoffmangel das Immunsystem schwächen kann.

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Überraschenderweise aber, und das ist die Haupterkenntnis der Studie, pendelte sich das Immunsystem der Antarktisprobanden im Laufe ihres Aufenthalts auf der Concordia nicht ein, wie man es hätte erwarten können. Im Gegenteil: Das Immunsystem der 14 Männer fuhr seine Erregbarkeit kontinuierlich hoch, und zwar in jener Zeit, als die Station geschlossen war, die Forscher also mehr oder weniger eingesperrt sich selbst überlassen waren. In diesen Monaten standen die Eisforscher deutlich weniger im Kontakt mit Antigenen aus der Umwelt, also zum Beispiel Schnupfenviren oder Durchfallerregern, wie man sie sich im Alltag schnell einfängt.

Dies allerdings führte nicht zu einem Abkühlen der körpereigenen Abwehrmechanismen, sondern zu einer überraschenden Enthemmung, also hohen Reizbarkeit des Systems - wie man es von Allergien und Autoimmunerkrankungen kennt. "Wir vermuten, dass das Immunsystem der Probanden schlicht nicht mehr wusste, welchen Feind es eigentlich zu bekämpfen hat und deshalb auf eigentlich bekannte Antigene besonders überzogen reagiert", sagt Alexander Choukèr. "Man kann sich den Zustand des Immunsystems der Überwinterer wie einen Schützenbogen vorstellen, der sich immer weiter spannt, ohne aber den Pfeil abzufeuern."

Kann sich das Immunsystem wieder einpendeln oder bleibt es enthemmt?

Wie kann das sein? Choukèr und seine Kollegen vermuten, dass der Sauerstoffmangel die Haupttriebfeder des übersensibilisierten Immunsystems war. Im Blut der untersuchten Antarktisforscher fanden sich hohe Konzentrationen an Stresshormonen. Als Erklärung hierfür kommen zwei Effekte infrage. Zum einen ist bekannt, dass der Körper - zumindest kurzfristig - mit einer Stressreaktion auf Sauerstoffmangel antwortet, Atmung und Puls gehen in die Höhe, der Mensch fühlt sich unwohl, man kennt das von einem zu raschen Anstieg in große Höhen, beispielsweise von einer Autoreise durch die Anden. Als zweite Ursache vermuten die Wissenschaftler eine Stressreaktion, ausgelöst im Kopf. Das Wissen der Eisforscher, im Notfall keine Hilfe von außen erwarten zu dürfen, kann den inneren Stresslevel steigern.

In einer weiteren, bereits beantragten Studie wollen die Wissenschaftler nun Rückkehrer solcher abgeschirmten Forschungsstationen über ein Jahr begleiten und herausfinden, ob sich ihr Immunsystem wieder einpendelt - oder aber, und das ist der Verdacht - fortan enthemmt bleibt. Fallberichte zeigen bereits, dass manche der zurückgekehrten Antarktisforscher nach ihrem Aufenthalt in der eisigen Einsamkeit vermehrt unter Allergien leiden, weil ihr Immunsystem fortan auf allerlei Umwelteinflüsse wie etwa Pollen oder Erdnussbutter übertrieben antwortet.

Am Ende der Studien steht die Hoffnung der Wissenschaftler, Antworten auf die Frage zu finden, mit welchen Mechanismen Stressfaktoren wie etwa Sauerstoffmangel Allergien begünstigen oder auslösen können - und zwar nicht nur im ewigen Eis, sondern eben auch im manchmal eisigen Alltag.

© SZ vom 01.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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