Medikamenteneinnahme:Mythos Therapieverweigerer

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"Man sollte Patienten auch nicht unter Generalverdacht stellen", sagt Wolfgang Himmel, Leiter einer Studie mit fast 10.000 Bluthochdruckpatienten.

Bis zu zwei Drittel aller Patienten gelten als Therapieverweigerer, die ihre Tabletten ohne Umschweife in den Müll werfen. Doch ganz so renitent scheinen die Kranken doch nicht zu sein.

Von Werner Bartens

Patienten sind schon ein ziemlich renitentes Völkchen. Sie geben vor, besser als der Arzt zu wissen, was ihnen fehlt und kommen mit einem Haufen Internetausdrucke in die Praxis, um dem Doktor zu beweisen, dass sie mit ihrer Diagnose richtigliegen. Manchmal fragen sie nach einer zweiten Meinung, bevor sie die erste gehört haben. Ärzte verleitet dieses Verhalten gelegentlich zu dem Stoßseufzer, dass die Medizin eine schöne Disziplin wäre, wenn nur die Patienten nicht wären.

Ein Hauptvorwurf an die widerspenstigen Kranken lautet zudem, dass sie ihre Medikamente nicht richtig einnehmen und ein Großteil der Arzneimittel auf dem Müll landet. Je nach Untersuchung gelten bis zu zwei Drittel aller Patienten als Therapieverweigerer, deren "Compliance" nicht stimmt - so nennen Ärzte die Treue und Zuverlässigkeit, mit der sich die Kranken an die Anweisungen und Verordnungen der Doktores halten.

Eine Untersuchung deutscher Mediziner nimmt die Patienten nun in Schutz und entlastet sie von den Vorwürfen. Wolfgang Himmel vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen und Thomas Grimmsmann vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Schwerin zeigen: Weitaus mehr Patienten nehmen ihre Medikamente, wenn die Kriterien für Therapietreue nicht so eng gefasst werden (European Journal of Clinical Pharmacology).

Die Ärzte werteten die Daten von fast 10.000 Patienten aus, die gegen Bluthochdruck behandelt wurden und erfassten über den Zeitraum von vier Jahren, wer der Therapie die Treue hielt. Dabei gestanden die Forscher den Patienten auch längere Behandlungspausen von mehreren Monaten zu und klassifizierten sie nicht gleich als Therapieverweigerer - sofern sie die Arzneien nach der Pause wieder schluckten. Durfte die Zeitspanne, in der keine Rezepte eingelöst wurden, bis zu 180 Tage betragen, blieben nahezu 50 Prozent der Patienten der Therapie treu. Wurde gar ein Zeitraum zwischen zwei Rezepten von bis zu 360 Tagen akzeptiert, lag der Anteil der Patienten, die nach vier Jahren immer noch blutdrucksenkende Medikamente einnahmen, sogar bei etwa 80 Prozent.

"Patienten nicht unter Generalverdacht stellen"

"Patienten tun oft nicht das, was Ärzte von ihnen erwarten und was sie ursprünglich selbst vorhatten. Sie legen immer wieder Medikamentenpausen ein", sagt Wolfgang Himmel. "Schnell entsteht dann die Vermutung, dass es am Fehlverhalten der Patienten liegt, wenn die Kranken nicht gesund werden." Dieser Alarmismus ist offenbar übertrieben, denn Himmel und Grimmsmann haben festgestellt, dass die Patienten trotz der langen Pausen aus pharmakologischer Sicht eine gerade noch akzeptable Versorgung mit Medikamenten erhielten. Über die vier Jahre ergab sich erstaunlicherweise eine durchschnittliche mittlere Tagesdosis von 1,2 Einheiten.

"Wir plädieren nicht fürs Nichtstun oder gar dafür, Medikamente wegzulassen. Aber man sollte Patienten auch nicht unter Generalverdacht stellen", sagt Himmel. "Wenn Patienten eine Weile nicht dabei waren, kehren sie oft doch wieder zur Therapie zurück. Und dann bekommen sie häufig auch die Menge an Substanzen, die ausreicht."

Wie komplex das Wechselspiel zwischen Arzt, Patient und Medikamenteneinnahme ist, zeigte jüngst eine Studie im Fachblatt JAMA. Zwar nahmen mehr Patienten Medikamente ein, nachdem sie vom Arzt und Apotheker gründlich aufgeklärt wurden. Das eigentliche Ziel - bessere Blutdruck- und Cholesterinwerte - wurde aber nicht erreicht.

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