Süddeutsche Zeitung

Medikamenteneinnahme:Geld fürs Pillenschlucken

Volkskrankheit Verweigerung: Bis zu 50 Prozent der Patienten nehmen ihre Medikamente nicht ein. Nun denken Mediziner über eine Entlohnung für folgsame Kranke nach.

Nikolas Westerhoff

Millionen Patienten tun nicht, was der Arzt von ihnen erwartet. Mal schlucken sie die verordneten Medikamente nicht, mal lassen sie wichtige Arzttermine ausfallen. Der moderne Patient macht, was er will, aber er will nicht, was er soll. Wissenschaftler nennen dieses Verhalten Non-Compliance, was so viel heißt wie mangelnde Folgsamkeit.

Immer mehr Ärzte klagen darüber, dass sich ihre Patienten eigensinnig oder unkooperativ verhalten. Studien zufolge hält sich etwa die Hälfte aller chronisch Kranken nicht an den Behandlungsplan. Für Ärzte mit paternalistischer Gesinnung ist das ein Graus. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich etwa 125.000 Herz-Kreislauf-Patienten, weil sie Vorgaben des Arztes nicht Folge leisten und die Therapie unterbrechen oder beenden. Sogar jeder fünfte Organtransplantierte verzichtet darauf, die für sein Überleben notwendigen immunsupressiven Medikamente nach der Übertragung zu nehmen. Die Patienten sterben früher oder müssen erneut operiert werden.

Wie der Arzt Werner Kissling vom Center for Disease Management der Technischen Universität München gezeigt hat, ist die Zahl der Therapieunwilligen in der Neurologie und Psychiatrie besonders groß (Psychiatrische Praxis, Bd.36, S.258, 2009). Bei Patienten mit Schizophrenie, Depression, Epilepsie oder Multipler Sklerose liegt die Rate der Medikamentenverweigerer bei 50 Prozent. Jede zweite Wiedereinweisung in die Psychiatrie ließe sich verhindern, wenn Betroffene ihre Psychopharmaka nicht eigenmächtig absetzen würden. Aber auch in den anderen medizinischen Disziplinen befolgt mindestens ein Drittel der Patienten die Therapiepläne nicht oder nicht richtig.

Solche Zahlen lassen Mediziner verzweifeln. Warum nur, fragen sie sich, riskieren so viele Menschen ihre Gesundheit, für die wir so hart gekämpft haben? Womöglich leiden viele Patienten unter einer verzerrten Wahrnehmung. Während Studien belegen, dass sich Millionen Patienten den Vorgaben ihrer Ärzte verweigern, stellen sich die Patienten selbst ein prima Zeugnis aus: Sie halten sich mehrheitlich für therapietreu und folgsam. Gesundheit bedeute ihnen schließlich alles.

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma könnten finanzielle Anreize für ungehorsame Patienten bieten. Wer regelmäßig die Pillen einnimmt, die der Arzt verschreibt, bekäme beispielsweise einen Geschenkgutschein über 50 Euro. Was wie eine Schnapsidee klingt, wird seit Jahren wissenschaftlich erprobt und von immer mehr Ärzten und Wissenschaftlern favorisiert. Käme es dazu, würde das Arzt-Patient-Verhältnis auf den Kopf gestellt. Der Kranke müsste für seine Therapie nicht bezahlen, sondern würde daran verdienen.

In medizinischen und psychologischen Fachzeitschriften wird bereits gefordert, diesen Weg zu beschreiten. Es gebe bereits ausreichend empirische Evidenz für die These, dass sich kranke Menschen durch finanzielle Anreize motivieren lassen, therapiekonformer zu leben, behaupten einige Forscher. Bei genauem Hinsehen aber zeigt sich, dass hier wohl der Wunsch Vater des Gedankens ist.

Therapieunwillige Patienten sind teuer. Nach Schätzungen von Gesundheitsökonomen verursachen Therapieverweigerer Kosten in Höhe von zehn Milliarden Euro jährlich. Laut Kissling ist Non-Compliance eine Volkskrankheit, an der 20 Millionen Bundesbürger leiden und 40.000 pro Jahr sterben. "Aus allen Untersuchungen geht hervor, dass Non-Compliance eines der wichtigsten Gesundheitsprobleme ist und dass dieses Problem aus medizinischen, ethischen und finanziellen Gründen rasch gelöst werden muss", so Kissling. Psychologisch-pädagogische Maßnahmen, um die Folgsamkeit von Patienten zu steigern, sind weitgehend gescheitert. Deshalb gelte es nun, unorthodoxe Lösungswege auszuprobieren, fordert Kissling.

Dass Ärzte ihre Patienten fürs Tablettenschlucken belohnen, klingt revolutionär. Doch so neu ist die Idee nicht. Seit Jahren testen Wissenschaftler, ob sich die Compliance mittels finanzieller Anreize steigern lässt. Studien zeigen, dass der Kooperationswillen von Patienten durch Geld zumindest kurzfristig größer wird. Bei Erkrankungen wie Tuberkulose, HIV oder Sucht ließen sich moderate positive Effekte erzielen.

Allerdings berufen sich fast alle Befürworter des Ansatzes auf eine Meta-Analyse aus dem Jahr 1997. Darin wertete der Gesundheitsökonom Antonio Giuffrida elf Studien aus. In zehn dieser Arbeiten hätten sich demnach finanzielle Anreize bewährt. So wirkten sich Belohnungen bei Tuberkulose-Patienten und Kokainabhängigen positiv aus. Auch sei es möglich, Menschen mit Geld zu besserer Zahnpflege, zur Teilnahme an Impfungen und zur konsequenten Behandlung von Bluthochdruck zu bewegen. Vor allem die Tuberkulose-Studie taucht bis heute in vielen Publikationen immer wieder als Positivbeispiel auf - zu Unrecht.

1996 beobachteten kalifornische Forscher, dass Obdachlose mit Tuberkulose aus San Francisco eher bereit waren, einen Arzttermin einzuhalten, wenn man ihnen dafür eine kleine Summe bezahlte. 84 Prozent hielten den Arzttermin ein, in der Kontrollgruppe waren es nur 75 Prozent. Solch kleinteilige Befunde werden herangezogen, um daraus den ideologisch eingefärbten Schluss zu ziehen, dass finanzielle Anreize die Therapietreue fördern.

Obwohl die Seriosität solcher Studien fraglich ist, behaupten einige Ärzte weiterhin, es sei mittlerweile Konsens, dass sich mit Geld viel erreichen lasse. Der Psychiater Tom Burns von der Universität Oxford findet zum Beispiel es nicht anrüchig, Patienten für ihre Folgsamkeit zu belohnen, um gesundheitsbezogenes Verhalten zu fördern. Den Bestechungsvorwurf will Burns nicht gelten lassen. Wer Geld für eine gute Sache zahle, sei weit davon entfernt, Menschen zu korrumpieren.

Die Gesundheitspsychologin Theresa Marteau aus London plädiert dafür, den Nutzen von Geldzahlungen an Patienten vorurteilsfrei zu prüfen (British Medical Journal, Bd.338. S.b1415, 2009). Einerseits bestünde zwar die Gefahr, dass Patienten gekauft werden und nicht mehr selbstbestimmt entscheiden. Andererseits handeln viele Patienten jetzt schon anders, als sie gerne würden - gegen ihren Willen ernährten sich viele ungesund, rauchten oder konsumierten Drogen. Durch Geldzahlungen bestünde die Chance, die Kluft zwischen Absicht und Wirklichkeit, also zwischen innerem Wollen und äußerem Handeln, zu schließen.

Doch unabhängig vom ethischen Für und Wider mangelt es bei genauerem Hinsehen an wissenschaftlicher Evidenz für die These, dass Geld fürs Pillenschlucken wirksam ist. Befürworter berufen sich hauptsächlich auf Präventionsstudien, deren Aussagekraft begrenzt ist. So wird in einigen Arbeiten eine 2007 publizierte HIV-Studie aus einer ländlichen Region Südtansanias genannt. Von der World Bank gefördert, wurde dort ein Gesundheitsprojekt gestartet: 3000 Männer und Frauen zwischen 15 und 30 Jahren wurden für Safersex belohnt. Für jeden HIV-Test, der negativ ausfiel, erhielten die Teilnehmer 45 Dollar. Dieser Anreiz führte tatsächlich zu einem gesundheitsbewussteren Sexualverhalten - der Gebrauch von Kondomen stieg.

Dieser Befund lässt sich jedoch kaum auf Deutschland übertragen und als Beleg anführen, dass Geld die Compliance fördert. 45 Dollar entsprechen etwa dem Viertel eines Jahreseinkommens in Tansania. Für einen vergleichbaren Anreiz in Deutschland müsste man Tausende Euro Belohnung pro Patient ausloben.

Dass sich die Compliance durch Geld steigern lässt, ist offenbar zum größten Teil Wunschdenken, denn große Metaanalysen belegen, dass den "Giants of Excess" - Fressen, Rauchen, Saufen - mit Geld nicht beizukommen ist. Weder Rauchen noch Übergewicht lassen sich so wirkungsvoll bekämpfen. Die Medizinerin Virginia Paul-Ebhohimhen von der Universität Aberdeen wertete neun Übergewichtsstudien aus. In keiner, so ihr Befund, gelang der Nachweis, dass übergewichtige Menschen besser und schneller abnehmen, wenn man sie dafür bezahlt. Die Gesundheitsökonomin Kate Hey von der Universität Oxford analysierte 2005 in einem Cochrane Review 15 Raucherentwöhnungsstudien. Darin wurde getestet, ob es Menschen eher gelingt, das Rauchen aufzugeben, wenn man sie finanziell belohnt. In keiner Studie schnitt die Geld-Gruppe nach sechs Monaten besser ab als die Kontrollgruppe.

Nach Ansicht der Psychologin Marteau erlauben die bisherigen Befunde zwei Schlussfolgerungen: Mit Geld lassen sich nur kurzfristig Motivationserfolge erzielen. Und Geld ist dann ein probates Mittel, wenn es um einmaliges Gesundheitsverhalten geht. Die Teilnahme an Impfungen lässt sich erkaufen. Die Bereitschaft, 20 Jahre lang keine fetten Speisen zu essen, jedoch nicht. So etwas funktioniert nur, wenn die Person wirklich will.

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SZ vom 26.01.2010/beu
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