"Ich schaffe das nicht" - dieser Gedanke war allgegenwärtig im Kopf von Martina S.* Er ließ die Mutter von drei Kindern nicht zur Ruhe kommen, auch nachts nicht. Der Arzt verschrieb der 30-Jährigen Benzodiazepine gegen Angst und Schlaflosigkeit. Das wirkte. Es wirkte so gut, dass sie später ihre Kinder zwang, Rezepte zu fälschen, indem sie die Menge der Packungen erhöhten. Aus der Ziffer "2" wurde die Ziffer "8". "Wir haben das alles gedeckt", erinnert sich ihr Sohn. Aus Scham. Keiner sollte die Sucht bemerken. Immer hieß es: "Mutter ist krank."
Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) sind in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Etwa. 1,1 bis 1,2 Millionen schlucken regelmäßig Benzodiazepine. 300.000 bis 400.000 Menschen sind abhängig von Schmerzmitteln und anderen Präparaten wie den Schlafmitteln Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon sowie von codeinhaltigen Hustenstillern.
Vier bis fünf Prozent aller häufig verordneten Arzneimittel besitzen nach Angaben der DHS ein Suchtpotenzial. "Schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte dieser Mittel werden nicht wegen akuter medizinischer Probleme, sondern langfristig zur Suchterhaltung und Vermeidung von Entzugserscheinungen verordnet", so die DHS.
Benzodiazepine, deren prominentester Vertreter Valium ist, dämpfen das zentrale Nervensystem, Ängste werden vermindert und selbst Schmerzen lassen nach. Der Patient fühlt sich besser, solange die Wirkung anhält. Doch genau darin liegt die Gefahr. Irgendwann gewöhnt sich der Körper an die Pillen und um den gewünschten Effekt zu erzielen, muss die Dosis erhöht werden.
Allgemein gilt: Benzodiazepine sollten nicht länger als vier Wochen eingenommen werden, um eine Abhängigkeit zu verhindern. Einige Experten halten sogar das für zu lang. "Der Verordnungszeitraum sollte 8 bis 14 Tage nicht überschreiten", mahnt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. "In der Realität kommen allerdings Monate und Jahre zustande." Wie bei Martina S.
Mehr als zwei Drittel der Pillensüchtigen sind Frauen. "Frauen gehen bei Beschwerden öfter zum Arzt als Männer. Bei so genannten funktionellen Störungen, also Krankheitsbildern ohne körperlichen Befund, greifen Ärzte häufig auch auf Beruhigungsmittel zurück", erklärt Peter-Michael Roth, Nervenarzt und Leiter der Oberbergkliniken Berlin-Brandenburg.
Untersuchungen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe identifizierten drei Gruppen von Suchtgefährdeten: Junge Menschen, die die Medikamente zur Stressbewältigung nutzen; Menschen zwischen 45 und 65, die aufgrund negativer Lebensereignisse ängstlich depressiv sind und Schlafstörungen haben sowie über 65-Jährige, die Schlafmittel schon seit Jahren in gleicher Dosis verschrieben bekommen und für die ein Leben ohne diese Helfer nicht mehr vorstellbar ist.
Zustand der "Wurstigkeit"
In der Regel fällt die Sucht anderen eher auf als dem Kranken selbst. "Die eigene Wahrnehmung von Veränderungen wird durch das Suchtmittel getrübt", sagt Roth. "Wenn es schlimmer wird, vernachlässigen Betroffene sich und ihre Wohnung. Sie ziehen sich von Freunden und Kollegen zurück und werden interesselos. Leistungsfähigkeit und Antrieb lassen nach." Ähnlich wirken Opiate. Die Pillen dämpfen nicht nur Ängste oder lindern Schmerz, sondern nehmen auch die Freude am Leben. Abhängige geraten in einen Zustand der "Wurstigkeit", in dem ihnen alles egal ist. Die Sucht gleicht einer Depression.
Auch Martina S. erging es so. Mittags quälte sie sich aus dem Bett, aß und machte nur das Allernötigste im Haushalt, dann nahm sie ihre Tabletten. Am Abend erwachte sie erneut, sah fern und schluckte die zweite Charge, um wieder bis zum nächsten Mittag zu schlafen. Ihre drei Kinder nahm sie wie durch einen permanenten Nebel wahr.
Für viele sind die Pillen der Mittelpunkt, um den sich ihr Leben dreht. Sie nehmen die Tabletten nicht nur in höheren Dosen, sondern auch in immer kürzeren Zeitabständen und bei allen möglichen Symptomen ein. Um nicht aufzufallen, lassen sie sich die Präparate von verschiedenen Ärzten verschreiben.
Im fortgeschrittenen Stadium treten plötzliche Gedächtnislücken auf. Betroffene können sich dann an Stunden oder ganze Tage nicht mehr erinnern. Bei älteren Menschen werden die Symptome fälschlicherweise oft dem normalen Gedächtnisabbau oder einer Demenz zugeschrieben. Sie stürzen außerdem unter den Einfluss der dämpfenden Mittel häufiger.
Sich die eigene Sucht einzugestehen, ist für Abhängige eine große Hürde. "Trotz ihrer Scham sind aber viele auch erleichtert, wenn man sie offen und ohne Vorwürfe darauf anspricht", sagt Roth. Angehörige oder Freunde sollten mit dem Betroffenen ohne Vorverurteilung oder Kritik darüber sprechen, welche Veränderungen ihnen aufgefallen sind und dass sie sich Sorgen machen, rät der Arzt. "Vorwürfe bringen nichts, denn der Abhängige ist ja auf das Suchtmittel angewiesen und kann sich nicht vorstellen, ohne zu leben."
Martina S. machte niemand auf ihren Zustand aufmerksam. Ihr Ältester schmiss den Haushalt für die Mutter und die zwei Geschwister. "Wir haben das Elend nicht wahrnehmen wollen", erinnert sich der Sohn. "Ich habe funktioniert wie ein Erwachsener." Irgendwann hatte seine Mutter dann einen Zusammenbruch. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen und Mäuse huschten über den Boden. Sie kam in eine Entzugsklinik.
Anders als Alkohol können Pillen nicht abrupt abgesetzt werden. Die Dosis muss Stück für Stück verringert werden. Ärzte sprechen auch von einem "Ausschleichen" aus der Sucht. Die Dauer der Entgiftung hängt von der Ausgangsdosis und der Einnahmezeit ab. "Im Extremfall dauert das acht bis zehn Wochen", sagt Roth. Ambulant kann sich das noch länger hinziehen.
Viele brauchen während dieser schwierigen Zeit Kontrolle und Aufsicht, denn die Entzugserscheinungen können mitunter heftig sein: Krampfanfälle, Verwirrtheit, Wahnvorstellungen, Delir, rasender Puls und Bluthochdruck, der auch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall auslösen kann. Zu den leichteren Entzugserscheinungen gehören Unruhe, Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Muskelzittern, Kopfschmerzen und Übelkeit.
Stärker erscheinen, als man ist
Auf die Entgiftung folgt die Entwöhnung. Die meisten Patienten benötigen dabei eine psychotherapeutische Begleitung. "Die Betroffenen müssen vor allem lernen, wie sie ihre Probleme wieder ohne Suchtmittel lösen können", betont der Klinikchef. Eine gute Strategie sei, eigene Schwächen anzunehmen und zu tolerieren. "Mit einem Suchtmittel vermeidet man nämlich genau das. Es gibt einem die Illusion, stärker zu sein, als man eigentlich ist", sagt der Psychiater.
Nicht immer klappt eine Entwöhnung gleich beim ersten Mal. Etwa 15 Prozent der Patienten werden Roth zufolge innerhalb eines Jahres wieder rückfällig. Davon sollte sich niemand entmutigen lassen. "Ein Jahr ohne Medikamente ausgekommen zu sein, ist bereits eine gute und wichtige Erfahrung", betont er. Oft braucht es mehrere Anläufe. "Wenn jemand sich nach einem Rückfall immer wieder anstrengt, hat er gute Chancen, richtig clean zu werden."
Martina S. nahm viermal Anlauf, bis sie ohne Schlafmittel auskam. Ihre depressiven Phasen bekam sie mit Medikamenten in den Griff, die nicht süchtig machen. Aber die Pillen hatten sie gezeichnet. Phobien machten es ihr unerträglich, draußen und unter Menschen zu weilen. Ihr restliches Leben verbrachte sie hauptächlich in der Wohnung.
*Der Name ist geändert, aber der Redaktion bekannt