Süddeutsche Zeitung

Masern in Berlin:Unterricht nur mit Impfpass

Lesezeit: 3 min

Von Hannah Beitzer, Berlin

Fünf Kinder der Carl-Zeiss-Schule in Berlin-Lichtenrade haben bis Freitag frei. Unfreiwillig. An der Schule im Bezirk Tempelhof-Schöneberg ist ein 17-jähriger Schüler in der vergangenen Woche mit Masern ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er ist einer von mehr als 400 Berlinern aller Altersklassen, die seit dem Herbst an der Infektion erkrankten.

Die Carl-Zeiss-Schule blieb am Montag geschlossen. Am Dienstag mussten alle Schüler und Lehrer ihre Impfpässe mitbringen. Fünf der etwa 1000 Schüler hatten die Dokumenten nicht dabei oder waren nicht gegen Masern geimpft und müssen in den nächsten Tagen zuhause bleiben. Das Gesundheitsamt rät ihren Eltern in einem Brief, die Impfung unbedingt nachzuholen. Zwingen kann es sie jedoch nicht.

Eine Schulschließung, Impfkontrollen, Unterrichtsausschlüsse - und das alles wegen eines einzigen kranken Kindes: Sibyll Klotz (Grüne), Gesundheitsstadträtin des Bezirks, hält die Schließung der Schule für überzogen. "Dadurch hat es eine richtige Hysterie gegeben." Schulleiter und Behörde hatten am Freitag vergeblich versucht, sich gegenseitig telefonisch zu erreichen. Der Schulleiter hatte schließlich allein entschieden.

Die Eltern der Schüler hatten jedoch Verständnis. Es sei "völlig nachvollziehbar", dass der Schulleiter den sicheren Weg gewählt habe, sagte ein Elternvertreter dem Berliner Tagesspiegel: "Er hat im Sinne der Schüler- und Elternschaft gehandelt." Auch die Bildungsverwaltung stellte sich hinter seine Entscheidung, schreibt die Zeitung. Der Schulleiter habe die Schulaufsicht informiert. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wegen der Epidemie in einer Berliner Schule Unterricht ausfällt, im Januar waren zwei andere Schulen betroffen.

Die Impfpässe zu kontrollieren und einzelne Schüler nach Hause zu schicken, hält auch Sibyll Klotz für eine verhältnismäßige Maßnahme. Den Eltern der Ungeimpften rät Klotz zu mehr Vorsicht: "Das ist eine schwere Krankheit, die tödlich sein kann", sagt sie.

Kind stirbt an Masern

Tatsächlich starb am vergangenen Mittwoch ein Kind an den Masern. Der kleine Junge wurde seit Mitte Februar in der Berliner Charité behandelt, seine Eltern hatten die Masernimpfung wohl lediglich verpasst und waren keine Impfgegner. Gesundheitssenator Mario Czaja zufolge war er gegen andere Krankheiten immunisiert. Er wurde nur 18 Monate alt. Dieser tragische Fall bestätigt die Warnung von Experten, wonach Masern mitnichten eine harmlose Kinderkrankheit sind. Bei jeder tausendsten Infektion kommt es zu einer Hirnhautentzündung, die in 30 Prozent der Fälle tödlich verläuft. Auch kann es zu fatalen Spätschäden kommen.

Die Masern grassieren seit vergangenen Oktober in Berlin, die Epidemie begann in Flüchtlingsheimen. Dort sind zurzeit besonders viele Menschen vom Balkan untergebracht. Viele von ihnen sind nicht geimpft, da während der Bürgerkriegszeit in den 90er Jahren die Versorgung in den betroffenen Ländern schlecht war. Zwischen 1992 und 1995 wurde dort nur die Hälfte der Kinder geimpft. Erst seit zwei Jahren wird wieder die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angemahnte Impfquote von mindestens 90 Prozent erreicht. In Deutschland sind inzwischen mehr als 90 Prozent der Kinder zum Schuleintritt geimpft. Die schon lange geplante Rate von 95 Prozent, die es braucht, um die Krankheit auszurotten, wird allerdings noch immer nicht erreicht.

Impfgegner vor allem in wohlhabenden Kiezen

Inzwischen haben die Infektionen die Flüchtlingsunterkünfte längst verlassen. 80 Prozent der Berliner Erkrankten sind dem Berliner Gesundheitssenator Mario Czaja zufolge keine Flüchtlinge. "Da treffen Zuwanderer auf impfmüde Berliner", sagt Sybill Klotz. "Nur so kann sich das so schnell verbreiten."

"Das Hauptproblem sind nicht sogenannte bildungsferne Haushalte oder Menschen mit Migrationshintergrund, sondern das Problem sind eher die Kinder aus den gemeinhin gut situierten Kiezen Berlins", ergänzt Czaja. Dort gebe es viele Impfgegner. Das ist nicht nur in Berlin so. "Wenn sie sich die Statistiken in Deutschland anschauen, dann ist die Impfquote in Haushalten mit hoher Bildung niedriger als in anderen", sagt auch seine Sprecherin Constanze Frey.

Leidtragende sind unter anderem sehr kleine Kinder, die noch nicht geimpft werden können. Zur Zeit sind in Berlin viele Kinder unter einem Jahr von der Epidemie betroffen. Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, sprach sich am Dienstag im rbb für eine Impfpflicht aus. Das tödliche Risiko durch Masern könne man durch eine Impfung erfolgreich - "nämlich zu 100 Prozent" - minimieren, sagte Jonitz. Eine Impfung des Kindes helfe zudem auch anderen Menschen, die beispielsweise wegen Krankheiten nicht geimpft werden können oder eben zu klein dafür sind. Auch Czaja betont, er sei ein "Freund der Impfpflicht", sieht jedoch im Moment keinen politischen Konsens, eine Impfpflicht einzuführen.

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