Masern-Impfung:Mythen, Misswirtschaft, Misstrauen

Measles poster is seen at Venice Family Clinic in Los Angeles

In den USA werden Reisende vor den Masern in anderen Ländern gewarnt. Doch immer öfter besteht die Gefahr immer auch im eigenen Land.

(Foto: REUTERS)

Ablehnung aus religiösen Gründen, Schlendrian oder Fehlinformation: Impfmüdigkeit ist kein deutsches Phänomen, wie der Blick in andere Länder zeigt. Eindrücke aus den USA, Großbritannien, Japan - und ein hoffnungsvoller Blick nach Finnland.

USA: Konservative Christen und Liberale vereint gegen das Impfen

Schon 154 Masern-Fälle zählen die USA in diesem Jahr, ein Großteil darauf ist auf einen Ausbruch in Disneyland im Dezember zurückzuführen. Die Epidemie hat eine heftige Debatte über die Verantwortung der "Anti-Vaxxers" ausgelöst, jene Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen - aus religiösen Gründen oder einer medizinisch unbegründeten Angst, dass dies Autismus auslösen könnte.

Eine Form ganz strenger Impfpflicht gibt es nur in zwei Bundesstaaten, Mississippi und West Virginia. Im Rest des Landes können Eltern aus religiösen und weltanschaulichen Gründen die Schutzvorkehrungen verweigern. Manchmal genügt hierfür eine Unterschrift, vielerorts müssen Ärzte eine Bescheinigung ausstellen - eine Praxis, die unter Medizinern für erhitzte Diskussionen gesorgt hat.

Im Jahr 2000 hatte die US-Gesundheitsbehörde CDC die Masern für beseitigt erklärt, doch in den vergangenen Jahren sank die Impfquote konstant auf derzeit 91 Prozent. 2014 gab es in den USA 644 Masern-Erkrankungen, so viele wie noch nie in diesem Jahrtausend.

In einigen Bundesstaaten arbeiten Politiker daher daran, die Impf-Ausnahmen einzuschränken. 68 Prozent der Amerikaner sind laut einer Meinungsumfrage für eine komplette Impfpflicht, 30 Prozent sprechen sich dafür aus, den Eltern die Entscheidung freizustellen.

Zu den Impfgegnern gehören nicht nur ultrareligiöse Christen wie die Amischen, die im vergangenen Jahr in Ohio eine große Masern-Welle erlebten; auffallend niedrige Impfquoten finden sich in einigen der liberalsten und wohlhabendsten Bezirken der Westküsten-Staaten Kalifornien, Oregon und Washington. Wissenschaftsjournalist Seth Mnookin, der seit Jahren über die Entwicklung berichtet, erklärte einmal nur halb im Scherz: Um die Wohnorte von Impfgegnern zu finden, genüge es, einen Kreis um Amerikas Biomärkte zu ziehen.

Johannes Kuhn, San Francisco

Großbritannien: Der schädlichste Scherz des Jahrhunderts

Im Jahre 1998 behauptete der britische Chirurg Andrew Wakefield in der Zeitschrift The Lancet, es gebe einen kausalen Zusammenhang zwischen der kombinierten Masern-, Mumps- und Rötelimpfung (MMR) und der Entwicklung von Autismus bei Kindern. Diese These entbehrte, wie sich herausstellte, jeder Grundlage. Wakefield, der in den Jahren nach der Veröffentlichung einen vor allem von der Zeitung Daily Mail unterstützten Propagandafeldzug gegen die Impfung begonnen hatte, wurde 2008 wegen unethischer Forschungsmethoden und wissenschaftlicher Unehrlichkeit die Approbation entzogen. The Lancet zog seinen Aufsatz als "komplett falsch" zurück.

Doch der "schädlichste medizinische Scherz der vergangenen 100 Jahre", wie Pharmakologie-Professor Dennis Flaherty den Aufsatz nannte, hatte seine fatale Wirkung längst entfaltet: Viele verunsicherte Eltern wollten nicht mehr, dass ihre Kinder geimpft wurden. Vor Andrew Wakefields Lancet-Aufsatz hatte die MMR-Impfrate in Großbritannien, wo es keine Impf-Pflicht gibt, bei 91,2 Prozent gelegen. Sie lag damit bereits unter der von der Weltgesundheits-Organisation empfohlenen Mindestrate von 95 Prozent.

Nun sackte sie weiter ab. An ihrem Tiefpunkt in den Jahren 2003 und 2004 wurden 20 Prozent aller Kinder in Großbritannien nicht geimpft, in manchen Gegenden lag die Impfrate sogar nur bei etwa 50 Prozent. 2005 gab es in England eine Mumps-Epidemie mit 43 000 Fällen; auch Masern brachen wesentlich häufiger aus als noch Mitte der Neunzigerjahre. Erst 2012 hatte sich die durchschnittliche Impfrate wieder auf gut 90 Prozent erholt.

Alexander Menden, London

Japan: Ängstliche Bürokratie

Auch Japan hat Impfprobleme. Allerdings weniger Impfgegnern als mit Bürokratie und Schlendrian. Die meisten Japaner hinterfragen nicht, was die Regierung ihnen vorschreibt. Sie impfen ihre Kinder nach Plan, der Staat zahlt. Der Konformitäts-Druck ist hoch und der Arzt eine Autorität, an der man nicht zweifelt.

Für Impfkampagnen ist das durchaus hilfreich. Japanische Eltern lassen ihre Kinder auch alljährlich gegen Grippe impfen. Allerdings dauert es in Japan lange, bis ein Arzneimittel zugelassen wird. Tokios Impfplan halten ausländische Ärzte für veraltet.

Das Gesundheitsministerium erklärt seine Langsamkeit mit einer angeblich anderen Physiologie der Japaner. Ausländische Medikamente müssten deshalb für Japan neu getestet werden. Damit verschleppen die Beamten die Zulassung der Präparate und helfen der eigenen Pharma-Industrie.

Auf Probleme reagiert die Medizinalbürokratie ängstlich - wenn sie überhaupt reagiert. 1993 verbot sie die Kombi-Impfung MMR gegen Masern, Mumps und Röteln wegen fataler Nebeneffekte. Später stellte sich heraus, daß der japanische Impfstoff-Hersteller gepfuscht hatte. Er hatte Impfsera verwendet, die abgelaufen waren. Die Zahl der Fälle von Autismus, der, so die Impfgegner, vom MMR-Impfstoff provoziert werden soll, hat in Japan nach dessen Verbot sogar zugenommen. Dennoch bleibt die Kombi-Impfung bis heute verboten.

Erst 2006 wurde ein neuer Impfstoff gegen Masern und Röteln zugelassen; in der Zwischenzeit blieb eine ganze Generation ungeimpft. In Japan gibt es deshalb stets Masern-Fälle und es kommt immer wieder zu schweren Ausbrüchen. 2001 wurden 316 000 an Masern erkrankte Kinder und Jugendliche registriert, ihre wirkliche Zahl war größer. Vergangenen Januar meldeten Ärzte drei Mal mehr Masern-Fälle als ein Jahr zuvor. Das Institut für Infektionskrankheiten fürchtet deshalb eine Epidemie. Es ruft dazu auf, sich freiwillig impfen zu lassen.

Christoph Neidhart, Tokio

Finnland: Europas Erfolgsgeschichte

Wenn es ums Thema Impfen geht, schauen Experten bewundernd nach Finnland. Dem skandinavischen Land gelang es als erstem Staat der Welt, sowohl die Masern als auch Mumps und Röteln zu eleminieren. 1996 war Finnland Masern-frei, ein Jahr später erfolgte der Sieg über die anderen beiden Infektionskrankheiten.

1982 begann die Kampagne - groß angelegt aber ohne jeden Zwang für die Bevölkerung. Finnland profitierte dabei von einem gut ausgebauten Netz an Gesundheitseinrichtungen für Kinder. In dem 5,4-Millionen-Einwohner-Land gibt es etwa 1000 Kindergesundheitszentren, in denen der Großteil der Vakzine verabreicht wurde. 2500 Krankenschwestern wurden geschult und mit Informationsmaterial ausgestattet, um mit Eltern auch über Sorgen bezüglich der Impfung zu sprechen. Eine Medienkampagne begleitete das Vorhaben.

In einem zweiten Schritt wurde die Impfung von Kindern auf weitere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet: auf ungeimpfte Jugendliche, Mitarbeiter im Gesundheitssektor und Armeeangehörige.

Im vergangenen Jahr wurden nur drei Masern-Fälle in Finnland gemeldet. Doch beruhigt zurücklehnen können sich auch die Finnen nicht. Die Infektionskrankheit kann jederzeit aus anderen Ländern eingeschleppt werden und dann jene treffen, die nicht geimpft wurden, weil sie noch zu klein dazu sind, weil sie an anderen Krankheiten leiden oder die Immunisierung verpasst haben. Länder, in denen die Masern nach wie vor grassieren, gibt es genug: Die WHO zählte 2014 für ihre Europa-Region (zu der auch Russland und asiatische ehemalige Sowjetrepubliken zählen) etwa 22 000 Masern-Fälle. Mit knapp 7500 gab es die meisten registrierten Masern-Erkrankungen in Kirgistan. Aus Bosnien und Herzegowina wurden 5340 Fälle gemeldet, aus Russland und Georgien jeweils knapp 3300. In Italien steckten sich seit Anfang vergangenen Jahres knapp 1700 Menschen an.

Berit Uhlmann, München

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