Süddeutsche Zeitung

Masern-Epidemie in Berlin:Volles Risiko, tödliche Folgen

Lesezeit: 4 min

Von Christina Berndt

Kinderkrankheit - wie harmlos das klingt. Doch die Krankheiten, die nur deshalb nach den Kindern heißen, weil sie so ansteckend sind, dass schon die Jüngsten sie bekommen, sind alles andere als harmlos. Oft geht von ihnen eine erhebliche Gefahr aus, mitunter eine tödliche, wie jetzt ein trauriger Fall aus Berlin zeigt.

Dort starb am vergangenen Mittwoch ein kleiner Junge offenbar an den Folgen der Masern. Die genaue Todesursache wird nach Angaben der Berliner Charité, wo der Junge seit dem 13. Februar behandelt wurde, noch untersucht. 18 Monate alt war das Kind nach Angaben des Berliner Gesundheitssenators Mario Czaja. Wie sich der Junge angesteckt hat, ist noch nicht bekannt. Offenbar hatten die Eltern den Masern-Schutz versäumt, obwohl sie Impfungen nicht grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. "Das Kind war geimpft, aber nicht gegen Masern", sagte Czaja. Aus Sicht von Fachleuten war es nur eine Frage der Zeit, dass sich ein solch tragischer Fall in Berlin ereignen würde, wo seit vergangenen Oktober die Masern grassieren. "Fast 600 Menschen sind dort inzwischen erkrankt", sagt Johannes Hübner, Leiter der Abteilung für pädiatrische Infektiologie am Haunerschen Kinderspital der Universität München. Bei so vielen Fällen sei es keine Überraschung, dass auch Verläufe mit schweren Komplikationen bis hin zum Tod vorkämen.

Wenn die Masern das Gehirn angreifen, kann dies den Tod bedeuten

Auf eins zu 1000 schätzen Fachleute die Gefahr für eine Lungen- oder Gehirnentzündung als Folge der Masern, die so harmlos mit Fieber und Husten beginnen und sich dann in roten Pusteln zeigen. Wenn die Masern das Gehirn angreifen, kann dies den Tod bedeuten. "Wir haben dann keinen Einfluss mehr auf den Verlauf", sagt Philipp Henneke, Leiter der Pädiatrischen Infektiologie an der Kinderklinik der Universität Freiburg.

Und wenn die Patienten die Hirnentzündung überleben, bleiben oft Schäden zurück. Etwa jedes dritte Kind hat Lernschwierigkeiten oder bleibt geistig oder körperlich behindert. "Masern sind eine sehr tückische Krankheit", betont Henneke - auch weil Menschen schon ansteckend sind, bevor sie sich krank fühlen.

Von einer schweren Nebenwirkung ist derzeit offenbar auch ein Jugendlicher im Berliner Ortsteil Lichtenrade betroffen. Dort schloss am Montag eine Sekundarschule. Mitschüler und Lehrer des Jugendlichen müssen nun Impfbücher vorlegen. In ganz Berlin sind ungeimpfte Lehrer aus dem Dienst genommen worden, weil sie die Krankheit weiterverbreiten könnten, bevor sie sie an sich wahrnehmen.

Die Masernimpfung schützt ein Leben lang

Hätten sich die Eltern des Berliner Kindes an die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission gehalten, wäre ihr Sohn wohl vor den Masern gefeit gewesen. Empfohlen wird die Masernimpfung noch vor dem ersten Geburtstag. Sie schützt ein Leben lang - allerdings sprechen rund drei Prozent der Kinder nicht an, weshalb eine zweite Impfung im zweiten Lebensjahr nötig ist.

"Man sollte diese zweite Impfung nicht so weit hinausschieben", empfiehlt Johannes Hübner, "um das Risiko zu minimieren." Denn kleinen Kindern können die Masern besonders gefährlich werden.

Immer größere Aufmerksamkeit hat in den vergangenen Jahren eine stets tödliche Spätkomplikation der Masern erlangt, die besonders häufig auftritt, wenn die Patienten sehr jung sind. Bei der SSPE entzündet sich das Gehirn; die Kinder zeigen zunächst psychische Auffälligkeiten und Muskelkrämpfe, dann sterben sie. Einer von 3300 Patienten entwickelt die SSPE Jahre nach der Masernerkrankung.

Für Wolfram Hartmann ist das alles Leid, das sich so leicht verhindern ließe. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ärgert sich seit Langem über den fehlenden politischen Willen für eine Impfpflicht. Eltern müssten ihre Kinder im Auto schließlich auch anschnallen. "Eltern in Deutschland haben immer noch das Recht, ihren Kindern den Impfschutz vorzuenthalten", sagt er. Das sei ein "unhaltbarer Zustand". Die Eltern gefährdeten nicht nur ihre eigenen Kindern, sondern auch solche Kinder, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden könnten. Eine Impfpflicht fordert der Freiburger Infektiologe Philipp Henneke nicht, allerdings ein "Grundrecht auf Impfung".

Das hätte nach den Vorstellungen der Weltgesundheitsorganisation in Deutschland längst passieren sollen. Zunächst war 2010 als Deadline für die Masern vorgesehen, dann 2015. Dass auch dieser Plan perdu ist, zeigt schon das Beispiel Berlin, wo es derzeit mit 574 Masern-Fällen mehr gibt als bundesweit im gesamten Jahr 2014.

Der Grund ist Impfskepsis. Manche Menschen fürchten Impfungen inzwischen mehr als die Krankheiten, vor denen sie schützen sollen. Aus Sicht von Fachleuten ein fataler Trugschluss. Dass manche Eltern sogar "Masern-Partys" veranstalten, damit ihre Kinder erkranken, kann Henneke nicht verstehen: "So ein Verhalten kommt für mich einer Körperverletzung gleich."

"Viele Erwachsene, die die Masern durchgemacht haben, verklären sie"

Dass manche Leute Impfungen aus Sorge um ihre Kinder ablehnen, ist aus Sicht der Experten unbegründet. "Die Nebenwirkungen sind minimal", sagt Henneke. "Es gibt häufig eine lokale Reaktion an der Einstichstelle. Und in jedem hundertsten Fall kommt es zu Impfmasern, die aber nicht ansteckend sind und immer einen leichten Verlauf nehmen." Das alles sei kein Vergleich mit der Gefahr durch echte Masern, meint auch der Münchner Arzt Hübner.

Manche Eltern sind der Meinung, es tue ihren Kindern gut, wenn sie die Krankheit durchmachen. Sie haben Sorgen, dass sie dem Kind durch die Impfung eine wichtige Entwicklungsmöglichkeit nehmen. Die Sorge sei unbegründet, beruhigt Philipp Henneke: Das Immunsystem habe auch mit den Impfungen und den übrigen Keimen genug zu tun. Es werde dadurch genauso geschult wie durch schwere Krankheiten.

"Viele Erwachsene, die die Masern durchgemacht haben, verklären sie", sagt der Infektiologe. Es bleibt im Gedächtnis, dass sich die Familie besonders liebevoll um ein so krankes Kind kümmert. Wer an den Masern gestorben ist oder schwere Behinderungen davongetragen hat, kann dagegen nicht davon erzählen. "Und weil die Masern so selten geworden sind, kennt auch kaum noch jemand solche Fälle", sagt Henneke. Für ihn steht fest: "Impfstoffe sind eine Basis-Errungenschaft der modernen Medizin. Sie sollten so selbstverständlich sein wie die Wund-Desinfektion oder steriles Operations-Besteck."

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Quelle:
SZ vom 24.02.2015
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