Mammografie:Geschichte einer Ernüchterung

Die ins Brustkrebs-Screening gesetzten Hoffnungen waren groß, nun werden immer mehr Risiken bekannt, Fehlalarme sind häufig. Die Frage bleibt: Wie lassen sich Vor- und Nachteile abwägen?

Von Werner Bartens

Die Kardiologen sind gescheitert: Die wahren Bedrohungen werden noch immer falsch eingeschätzt. Wenn Frauen um ihre Gesundheit bangen und Siechtum und frühen Tod fürchten, denken sie kaum an Herzleiden, sondern vor allem an Brustkrebs. Die tatsächlichen Verhältnisse sehen anders aus, und zum Weltfrauentag am 8. März erinnern Ärzte daran. "Krankheiten von Herz und Kreislauf gelten als Problem der Männer, und Brustkrebs wird von Frauen als das viel größere Thema angesehen", sagt die Kardiologin Susanna Price aus London. "Dabei bringen Herz-Kreislauf-Leiden die meisten Frauen in Europa um und verursachen 51 Prozent der Todesfälle - im Vergleich dazu sterben an Brustkrebs drei Prozent der Frauen."

Doch Statistik und Epidemiologie sind eine Sache, Ängste und Sorgen eine andere. Schließlich ist bei Brustkrebs ein Organ betroffen, das wie kein zweites das Selbstverständnis der Frauen beeinflusst, zumindest wenn es um Attraktivität, Weiblichkeit, Erotik und Mutterschaft geht. Eine qualitative Untersuchung hat 2014 gezeigt, dass es nicht allein rationale Argumente sind, die Frauen dazu bewegen, am Mammografie-Screening teilzunehmen.

Das Screening entdeckt vor allem harmlose Frühformen, die längst nicht alle zu einem Tumor werden

"Nachdem meine Schwägerin mit 53 Jahren an Brustkrebs gestorben ist, hilft mir die Untersuchung, die Angst vor Brustkrebs zu minimieren", sagt eine Frau als Begründung dafür, warum sie am Mammografie-Screening teilnimmt. "Über Nutzen und Schaden der Untersuchung bin ich mir nicht im Klaren." Dass sie doch "etwas dagegen tun muss", als sie erfuhr, dass ihre beste Freundin erkrankte, gibt eine andere Frau als Grund dafür an, dass sie ihre Brust alle zwei Jahre röntgen lässt.

Die Ängste der Frauen nimmt auch die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Barratt aus Sydney ernst. Im aktuellen British Medical Journal zeigt sie, mit welcher Euphorie und welch hohen Erwartungen das Mammografie-Screening in etlichen Ländern in den 1980er- und 1990er-Jahren eingeführt wurde. Dass sich das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, mithilfe der Mammografie um 30 Prozent senken lasse, legten frühe Untersuchungen nahe. Bei einer solchen Bilanz würde der Nutzen klar den Schaden durch die Strahlenbelastung oder unklare Testergebnisse überwiegen.

Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Wer die Daten aus seriösen Untersuchungen zur Kenntnis nimmt, muss feststellen, dass der Nutzen der Mammografie weitaus geringer ist und der Schaden erheblich sein kann - auch wenn sich nicht alle Skeptiker dem Votum des Kopenhagener Epidemiologen Peter Gøtzsche anschließen, demzufolge "der wirksamste Weg für eine Frau zu verhindern, dass sie zur Brustkrebspatientin wird, darin besteht, nicht zum Screening zu gehen."

Mit der Einführung des Screenings in einigen Ländern stieg dort - auf den ersten Blick paradoxerweise - die Häufigkeit von Brustkrebs um zwei bis zehn Prozent an. Mehr Untersuchungen brachten schlicht mehr Tumore zutage. Im optimalen Fall, so die Hoffnung, würden nach Jahren regelmäßiger Reihenuntersuchung aber immer weniger fortgeschrittene Krebsformen und hauptsächlich die frühen Tumore entdeckt werden. Diese Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht.

Befragte akzeptierten 30 Prozent Überdiagnosen - aber nur, wenn das Screening viel nutzte

Im Gegenteil, die Häufigkeit der fortgeschrittenen Krebsformen stagniert bis heute. Allerdings stieg die Rate der als Ductales Carcinoma in situ (DCIS) bezeichneten Frühformen von 1983 bis 2003 um 500 Prozent. Diese frühen Zellveränderungen machen inzwischen 20 bis 30 Prozent aller mittels Screening entdeckten Brustkrebsfälle aus - wobei unklar ist, ob der Begriff "Krebs" in diesem Fall überhaupt angemessen ist, weil sich längst nicht aus allen diesen Veränderungen ein Tumor entwickelt. Wäre dies so, müsste ja - gerade weil so viele DCIS entdeckt werden, die Zahl der invasiven fortgeschrittenen Karzinome kontinuierlich abnehmen, aber das ist nicht der Fall.

Es ist eine unangenehme Erkenntnis, aber mit dem Mammografie-Screening werden hauptsächlich solche Formen von Brustkrebs aufgespürt, die mit einem niedrigen Risiko einhergehen, nicht wuchern und die niemals zu einer Bedrohung für die betroffene Frau heranwachsen. Werden solche harmlosen Erkrankungen entdeckt und behandelt, sprechen Ärzte von "Überdiagnose" oder "Übertherapie". Dummerweise lässt sich selten genau sagen, ob eine Tumor-Frühform tatsächlich irgendwann gefährlich wird oder nicht. In England werden 99 Prozent der Frauen, bei denen während des Screenings ein Krebs diagnostiziert wird, auch operiert. 70 Prozent bekommen zusätzlich Bestrahlung und Chemotherapie.

"Man kann bei 20 Prozent der diagnostizierten Krebse davon ausgehen, dass sie Überdiagnosen sind", sagt Barratt. "Das heißt, dass 20 Prozent dieser Frauen gegen eine Krankheit behandelt werden, von der sie ohne Screening nie etwas gespürt hätten." Diese Daten basieren auf den größten und methodisch besten Studien. In anderen Untersuchungen wird der Anteil an Überdiagnosen etwas geringer oder auch auf bis zu 50 Prozent geschätzt.

Für Frauen, die vor der Entscheidung stehen, sich untersuchen zu lassen, ist es schwierig, aus diesen Befunden ein Fazit zu ziehen. Aus der Fachliteratur lässt sich aber ein Rechenmodell ableiten. Wenn 1000 Frauen im Alter zwischen 50 und 70 zehn Jahre lang - in den meisten Screening-Programmen alle zwei Jahre - an der Mammografie-Reihenuntersuchung teilnehmen, sterben während dieser Zeit drei von ihnen an Brustkrebs. In dieser Dekade werden 150 von 1000 Frauen mit einem Fehlalarm konfrontiert, einer so genannten falsch positiven Diagnose: Die Mammografie ergibt einen Krebsbefund, der sich erst bei weiteren Untersuchungen als falsch herausstellt, weil eine harmlose Verdichtung oder Zyste zu Irritationen geführt hat. Der Fehlalarm ist nicht mit einer Überdiagnose zu verwechseln. Während im ersten Fall kein Tumor vorliegt, gibt es im zweiten sehr wohl krebsartige Veränderungen, doch die führen zeitlebens nie zu Beschwerden.

Im Vergleich zur Bilanz des Screenings sind die Folgen des Nichtstuns schneller erklärt. Unter jenen Frauen zwischen 50 und 70, die nicht am Screening teilnehmen, ist damit zu rechnen, dass in zehn Jahren vier von 1000 an Brustkrebs sterben. Die Mammografie-Reihenuntersuchung rettet also einer von 1000 Frauen das Leben. Manche Studien kommen zu etwas anderen Ergebnissen, zu zwei oder fünf von 1000 geretteten Frauen. In der Größenordnung unterscheiden sich die Daten aber kaum.

Doch ob ein, zwei oder fünf von 1000 Frauen gerettet werden, wer will entscheiden, ob dieser Nutzen 150 Fehlalarme und 20 Prozent Überdiagnosen aufwiegt? Oder sollten die Milliarden, die weltweit in das Screening gesteckt werden, medizinischen Leistungen vorbehalten bleiben, deren Nutzenbilanz eindeutiger ausfällt? Forscher aus Oxford um Ann Van den Bruel berichten im British Medical Journal von 1000 Erwachsenen, die sich zu zwei Szenarien äußern sollten. Könnte Screening zehn Prozent der Krebstodesfälle verhindern, fanden die Befragten zwischen 100 und 150 Überdiagnosen unter 1000 Teilnehmern akzeptabel. Ließen sich gar 50 Prozent der Todesfälle verhindern, würden die Befragten sogar bis zu 300 Überdiagnosen unter 1000 Teilnehmern hinnehmen. "Wie viele Überdiagnosen als akzeptabel gelten, hängt vom Nutzen des Screenings ab", sagt Van den Bruel.

Dieser Nutzen wird aber massiv überschätzt. Die eingangs erwähnte Studie erbrachte vergangenes Jahr für Deutschland, dass Frauen im Mittel auf 237 gerettete Leben tippen, wenn sie angeben sollen, welchen Nutzen 1000 Frauen vom Mammografie-Screening haben. Es sind, großzügig gerechnet, maximal fünf.

Für Alexandra Barratt folgt daraus, genauer über Vor- und Nachteile aufzuklären. Dazu sind auch bessere Studien nötig. Zudem sollten die entdeckten Frühformen weniger aggressiv behandelt werden, da etliche Überdiagnosen darunter sind. Ob das Screening geografisch wie auch auf Frauen bis 75 ausgedehnt werden sollten, stellt die Medizinerin hingegen infrage. "Die Teilnehmerquote am Screening ist kein Beweis für die Qualität eines Gesundheitswesens", sagt Barratt. "Dazu wissen wir inzwischen zu viel über die Schäden der Überdiagnose bei symptomfreien Frauen."

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