Leipzig (dpa/sn) - Maßnahmen des Infektionsschutzes und des Kinderschutzes müssen zusammen gedacht und umgesetzt werden, um Kinder, Jugendliche und Familien bestmöglich zu schützen. Das ist die Kernforderung einer Expertengruppe aus Medizinern, Virologen und Kinderpsychologen. „Kinder und Jugendliche leiden extrem unter den vielen Facetten der Pandemie“, betonte Prof. Julian Schmitz von der Universität Leipzig. Er hatte gemeinsam mit sieben weiteren Fachkollegen eine entsprechende Stellungnahme für den Expertenrat der Bundesregierung verfasst.
Darin sprechen sich die Fachleute für einen besseren Infektionsschutz von Kindern und Jugendlichen aus, unter anderem durch effizientes Impfen. Außerdem fordern sie niedrigschwellige, an sozialen Kriterien orientierte, Notbetreuungskonzepte, eine Verstärkung der Jugendhilfemaßnahmen sowie mehr psychosoziale Angebote mit schulischer Anbindung.
Aktuelle Zahlen zeigten nahezu eine Verdopplung der behandlungsbedürftigen psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen, heißt es in der Stellungnahme. Gleichzeitig sei das bereits vor der Pandemie stark ausgelastete psychosoziale Versorgungssystem nicht in der Lage, die Mehrzahl der Betroffenen zu versorgen. Unhaltbar lange Wartezeiten auf Beratungs- und Therapieangebote seien die Folge.
Kinder haben mittlerweile deutschlandweit fast die höchsten Inzidenzen aller Bevölkerungsgruppen und sind damit häufig von Infektion, Isolation und Quarantäne betroffen. „Je länger die Pandemie dauert, desto schlimmer wird die Situation für Kinder und Jugendliche“, betonte Prof. Menno Baumann von der Intensivpädagogik der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Zwar würde der Mensch mit der Zeit gewisse Anpassungsstrategien entwickeln, aber „an eine soziale Isolation kann er sich nicht gewöhnen“. Zudem gehe die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Wohnraumangebot und sozialer Vernetzung in der Gesellschaft durch die Pandemie weiter auseinander.
Besonders das unbedingte Festhalten an dem Präsenzunterricht in der jetzigen Form habe enorme Defizite mit teils fatalen Folgen aufgezeigt, sind sich die Experten einig. „Schule ist nur dann stabilisierend, wenn sie tatsächlich Bildung vermittelt, Ressourcen und Interessen fördert und stärkt, wenn sie eine stabile pädagogische Infrastruktur hat und Tagesstruktur und Rhythmus bietet“, betonte Baumann. Diese Funktionen erfülle Schule nicht, wenn sie durch ständige Infektions- und Quarantänefälle im Chaos versinke, Familien dadurch unberechenbar unter Druck gerieten, wenn Lehrkräfte ausfielen und vertreten werden müssten, Leistungsdruck auf schlechte Lehr- und Lernbedingungen treffe. Dann könne eine „um jeden Preis offene Schule“ auch psychisch gesehen Teil des Problems werden und ihre Funktion als Teil der Lösung einbüßen.
Man müsse die Schulen aktiv sicherer machen, forderte Jana Schroeder, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie und Infektiologin aus Rheine (NRW). Infektionsschutz sei auch Kinderschutz, schließlich sage eine milde Primärinfektion nichts über Langzeitfolgen aus. „Langzeitfolgen viraler Erkrankungen sind bestens bekannt und auch bei Sars-CoV-2 werden die Hinweise darauf immer deutlicher, zum Beispiel bei dem Thema PIMS und LongCovid.“
Statt auf der Präsenzpflicht als einziger Lösung zu beharren, sollte es eher eine Bildungspflicht mit der gleichzeitigen Berücksichtigung der besonderen Aspekte des Kinderschutzes geben, erläuterte Schroeder. Es fehle die Abwägung und Flexibilität, dass nicht jede Familie in der Pandemie die gleichen Bedürfnisse habe. „Es muss doch möglich sein, für Schulen entwickelte Konzepte umzusetzen, den Fernunterricht in Gang zu bringen, auch für Isolationen und Quarantänen, und gleichzeitig den Kinderschutz an die besonderen Erfordernisse anzupassen und auszubauen.“
So sollte auch eine Impfung an den Schulen angeboten werden. „Es geht um ein niederschwelliges Impfangebot für Kinder und Jugendliche insbesondre aus sozial schwächeren Familien.“ Schließlich seien noch 90 bis 95 Prozent der unter Zwölfjährigen in Deutschland ungeimpft.
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