Leben mit kranken Kindern:Langer Weg in die Normalität

Frühgeburt im Brutkasten

Familien stehen oft plötzlich vor einer völlig veränderten Lebenssituation: ein Frühchen im Brutkasten.

(Foto: dpa)

Jedes Jahr trifft etwa 40.000 Familien ein unerwarteter Schicksalsschlag: Ein Kind wird schwer krank geboren oder verunglückt. Ein normales Leben zu Hause ist ohne sozialmedizinische Unterstützung kaum möglich. Doch Hilfe bekommt nur ein Bruchteil der Betroffenen.

Von Oliver Hollenstein

Violeta war noch keine 36 Stunden alt, als ihr die Ärzte zum ersten Mal den Brustkorb aufschnitten. Vom Bauchnabel bis zur Drosselgrube öffneten sie den kleinen Körper, drückten die Innereien in den Bauchraum zurück, die sich durch ein Loch im Zwerchfell in der Brusthöhle ausgebreitet hatten. Vier Stunden operierten sie das Mädchen, dann verlegten sie es auf die Intensivstation. In der Hoffnung, dass sich seine Lunge nun entfaltet und es zu atmen beginnt.

Augsburg, ein Jahr später. Violeta schläft in einem Gitterbettchen im Kinderklinikum. 123-mal schlägt ihr Herz, 48 Atemzüge macht sie in der Minute, 95 Prozent ihrer roten Blutkörperchen transportieren derzeit Sauerstoff. "Die Atemfrequenz war vermutlich zu hoch", sagt Schwester Gerlinde und drückt auf das laut piepsende Überwachungsgerät.

Darko und Paulina Baric (Namen geändert) sitzen auf dem Balkon des Zimmers. "Das Gerät piepst alle paar Minuten", sagt Darko Baric, 37. Sechsmal, insgesamt fast 30 Stunden lang, wurde seine Tochter in ihrem kurzen Leben operiert. "Sie kennt kein Leben ohne Schläuche in der Nase."

40.000 Kinder werden im Jahr zu früh geboren, kommen schwer krank auf die Welt, erkranken, verunglücken oder sterben, schätzt der Bundesverband Bunter Kreis, in dem sich die sozialmedizinischen Einrichtungen für Familien von kranken Kindern zusammengeschlossen haben.

Das heißt: 40.000 Familien pro Jahr müssen sich plötzlich um ein krankes oder behindertes Kind kümmern. Eine Situation, die viele Eltern überfordert. Besonders, wenn die Kinder nach Monaten im Krankenhaus nach Hause kommen. Hilfe gibt es bisher aber nur für jede zehnte betroffene Familie, hat der Bunte Kreis errechnet. In mehr als der Hälfte der deutschen Städte und Gemeinden gibt es überhaupt keine entsprechende Einrichtung.

Selbstvorwürfe und Isolation

Schwester Gerlinde tritt auf den Balkon, blinzelt in die Sonne. "Sie schläft", sagt sie. "Dann können wir jetzt die Checkliste durchgehen. " In einer Woche soll Violeta wieder nach Hause kommen, das will vorbereitet sein. Ist noch ausreichend Sauerstoff im Beatmungstank in der Wohnung? Ja. Haben sie genug hochkalorische Spezialmilch? Ja. Ist das Rezept für die Krankengymnastin schon da? Ja. Wäre ein Termin beim Neurologen am kommenden Dienstag möglich? Ja. Und alle sieben Medikamente - sind davon noch genügend da? "Nein, da brauchen wir ein neues Rezept", sagt Darko Baric. "Ach ja", sagt Schwester Gerlinde, "eine Nahrungspumpe für zu Hause brauchen Sie ja auch noch." Seit der letzten Operation will Violeta nichts mehr essen. "Ich rufe den Kinderarzt an."

Gerlinde Ehrmann, 58 Jahre alt, ist Krankenschwester in der Augsburger Kinderklinik. Seit fünf Jahren arbeitet sie zudem als Nachsorgeschwester. In den ersten Monaten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus besucht sie die Eltern mehrmals in der Woche zu Hause, organisiert Medikamente, Arzttermine, vermittelt Hilfe, wenn es um Anträge bei der Krankenkasse oder sonstige Amtsangelegenheiten geht. Sie ist damit die wichtigste Säule der Betreuung durch den Bunten Kreis, die Managerin der Familie gewissermaßen.

"Unser Ziel ist es, die Familien so fit zu machen, dass sie es irgendwann alleine schaffen", sagt Andreas Podeswik, geschäftsführender Vorstand des Bunten Kreises. "Aber gerade am Anfang sind die Eltern oft mit der Organisation überfordert. Viele kämpfen außerdem mit Selbstvorwürfen, oft wenden sich auch Nachbarn und Verwandte ab, weil sie mit der Situation nicht umgehen können."

Die Idee für die sozialmedizinische Versorgung von Familien hatten 1992 betroffene Eltern, ein Kinderarzt, ein Pädagoge und ein Psychologe in Augsburg. Ihr Ziel: Die Familien nach dem Klinikaufenthalt begleiten, um zu verhindern, dass die Kinder bald wieder in die Klinik müssen, weil die Eltern überfordert sind. Später kamen Sozialpädagogen, dann Physio- und Ergotherapeuten hinzu. "Es ist wichtig, dass ein Netzwerk entsteht. Wenn die Einrichtungen sich untereinander kennen, findet man einfach schneller den richtigen Ansprechpartner", sagt Podeswik.

Familie Baric stammt aus Kosovo, Vater Darko lebt seit 1993 in Deutschland und arbeitet als Bäcker. Bei einer Vorsorgeuntersuchung im siebten Schwangerschaftsmonat entdeckten die Ärzte, dass Violeta ein kleines Loch zwischen den Herzkammern hat. Keine große Sache heute. Dass sie aber gleichzeitig den Zwerchfellbruch und einen sogenannten Platzbauch hatte, also einen Bruch, durch den sich die Gedärme nach außen drücken, entdeckten die Ärzte erst bei der Geburt.

"Vieles, was die Ärzte uns anfangs medizinisch erklärt haben, haben wir gar nicht verstanden", sagt Darko Baric. Seine Frau spricht kaum Deutsch, sie lebt erst seit 2011 in Deutschland. Vater Darko fuhr daher monatelang jeden Tag in die Spezialklinik nach München. "Ich habe nachts gearbeitet, bin nach Hause, habe geduscht und bin dann zu meiner Frau gefahren."

Als Violeta im vergangenen Herbst von der Spezialklinik in München nach Augsburg verlegt wurde, lernten die Barics den Bunten Kreis kennen. "Schwester Gerlinde war hier unsere Krankenschwester. Die hat uns angesprochen." Die Schwester half dann auch beim Ausfüllen des Antrags auf sozialmedizinische Nachsorge.

Versorgungslücken in Hessen, Saarland und Ostdeutschland

Seit 2010 hat jedes schwer kranke Kind als Regelleistung der Krankenkassen Anspruch auf diese Nachsorge. Im Schnitt zahlen die Kassen 20 Stunden, zehn- bis 15-mal können die Schwestern die Familien dann besuchen. "Dann ist das meiste so geregelt, dass die Familien alleine zurechtkommen", sagt Schwester Gerlinde. Oft sei es den Betreuern aber auch möglich, danach über andere Töpfe Unterstützung für die Familien zu organisieren.

Bisher gebe es das Angebot in vielen ländlichen Gegenden aber noch nicht, sagt Podeswik vom Bunten Kreis. Die Krankenkassen würden zwar die Leistungen finanzieren, die Initiativen müssten aber von engagierten Einzelnen gegründet werden. Sein Ziel: Bis 2018 soll die Anzahl der Initiativen von 70 auf mehr als 100 steigen, vor allem in Ostdeutschland, in Hessen und im Saarland, wo es Versorgungslücken gibt.

Ein kleiner Ort in der Nähe von Augsburg, die Wohnung von Familie Baric, Violeta ist wieder zu Hause. Auf dem Flur steht ein silberner Metalltank für den Sauerstoff. Der zehn Meter lange Schlauch, der Violeta ein Jahr lang den Bewegungsradius vorgab, liegt aufgerollt auf dem Behälter. Violeta quietscht vergnügt im Schlafzimmer. Darko Baric sitzt neben ihr auf dem Bett. "Es ist ein Wunder", sagt er. In der vergangenen Woche hat sich Violeta so weit erholt, dass sie sich tagsüber ohne Beatmung und ohne Überwachungsgeräte bewegen darf.

Es ist ein erster Schritt in Richtung Normalität. Endlich kann Paulina Baric mit ihrer Tochter spazieren gehen, ohne den Rucksack mit dem mobilen Sauerstoff dabeizuhaben. "Die frische Luft wird ihr guttun", sagt Schwester Gerlinde, während sie Violeta auf die Waage legt. "6860 Gramm, 100 Gramm mehr, toll", sagt sie. Aus Violetas Bauch schaut ein kleiner grüner Schlauch, über den sie Zusatznahrung bekommt. Etwas links davon beginnt die lange, schwulstige Narbe, die sich über ihren ganzen Körper zieht. Doch Darko Baric ist zuversichtlich: "Die Ärzte haben gesagt, irgendwann wird sie ein ganz normales Mädchen sein."

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