Süddeutsche Zeitung

Lateinamerika:Zika-Virus: Die WHO übertreibt massiv

Bei allem Leid: Die WHO macht mit ihrem Alarmgeschrei aus der Zika-Mücke einen Elefanten. Panikmache ist fehl am Platz.

Ein Kommentar von Werner Bartens

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erinnert an einen aufgeschreckten Haufen Bahnreisender, der bei einer ungewohnten Erschütterung die Notbremse zieht. Weil sie während der Ebola-Krise in der Kritik stand, zu spät reagiert zu haben, ruft sie jetzt vorschnell den "gesundheitlichen Notfall von internationaler Bedeutung" aus. Oberste Alarmstufe. Der Grund sind Infektionen mit dem Zika-Virus in Ländern Lateinamerikas. Eine Ansteckung während der Schwangerschaft könnte dazu führen, dass Kinder mit neurologischen Störungen und einem auffällig kleineren Kopf und Gehirn auf die Welt kommen, so der Verdacht.

Bisher handelt es sich nur um einen Verdacht, das muss man betonen. Der genaue Zusammenhang zwischen Infektion, Schwangerschaft und Fehlbildung ist unklar. In Kolumbien gibt es etliche Fälle infizierter Schwangerer, die gesunde Babys auf die Welt brachten. Was dazu führt, dass die einen die Infektion im Mutterleib unversehrt überstehen, während die anderen ihr Leben lang behindert bleiben, kann die Wissenschaft nicht sagen.

Was man zudem betonen muss: Wenn sich Erwachsene, Jugendliche und Kinder mit dem Zika-Virus anstecken, merken sie es kaum. Viele entwickeln gar keine Symptome. Die anderen bekommen Fieber, Hautausschlag, eventuell eine Bindehautentzündung und Gelenkschmerzen. Zumeist verläuft die Erkrankung ziemlich mild und ist in ein paar Tagen wieder vorbei. Wer nicht schwanger ist, für den besteht also keinerlei Gefahr.

Es gibt zwar einen immensen Notfall - aber nicht hier

Vor diesem Hintergrund wirkt die schrille Warnung der WHO besonders grotesk. Ein internationaler Notfall, der "eine außerordentliche Bedrohung anderer Staaten darstellt und eine koordinierte Antwort der internationalen Gemeinschaft erfordert, damit sich die Krankheit nicht weltweit ausbreitet" - so ist die Lage in den WHO-Statuten definiert. Geht's noch? Schwangere sollten sich, wenn möglich, nicht in betroffenen Regionen aufhalten, das schon. Aber ein internationaler Notfall, eine außerordentliche Bedrohung? Das ist massiv übertrieben.

Man muss zudem an Grundlagen der Infektionslehre erinnern: Das Zika-Virus verbreitet sich nicht von Mensch zu Mensch, sondern über den Stich der ägyptischen Tigermücke, und die gibt es nur in ausgewählten tropischen Regionen Afrikas und Amerikas. Auch das schränkt die Ansteckungsgefahr erfreulicherweise ein. Es ist gut und richtig, wenn jetzt Mückennester ausgeräuchert werden und zügiger als bisher an Therapie und Impfstoff gearbeitet wird - bisher gibt es nämlich beides nicht. Aber Panikmache ist völlig fehl am Platz. Hier wird, das Wortspiel liegt nahe, aus einer Mücke ein Elefant gemacht.

Zudem geht über das Alarmgeschrei der Sinn für Relationen verloren. Am Montag brachte das "Heute-Journal" nach einem ausführlichen Zika-Bericht einen kurzen Beitrag, dass in Äthiopien eine Million Menschen akut vom Hungertod bedroht sind. Das ist ein Notfall von internationaler Tragweite. Genauso wie es eine unfassbare Katastrophe ist, dass weltweit jedes Jahr drei Millionen Kinder an Unterernährung sterben - und etwa eine Million an vermeidbaren Magen-Darm-Infekten.

Man hat sich offenbar an diesen medizinischen wie humanitären Ausnahmezustand gewöhnt, als dass er noch als internationaler Notfall durchgehen würde. Natürlich ist es schwierig und manchmal heikel, Leid zu vergleichen und zu hierarchisieren. Aber die WHO beteiligt sich am Verdrängen und Verschweigen, wenn sie aus Sorge um das eigene Image im vorauseilenden Alarmismus eine vergleichsweise neue und unheimliche Krankheit zur großen Bedrohung aufbläst - und darüber die tatsächlichen Gefahren für die Weltgesundheit ignoriert.

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SZ vom 03.02.2016/rus
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