Kurzsichtigkeit:Viel lesen, wenig sehen

Chinesische Schüler

Schüler aus Singapur im Film "I Not Stupid". In Asien ist Kurzsichtigkeit besonders verbreitet.

(Foto: REUTERS)
  • Augenmediziner rätseln seit langem, warum Menschen, die viel lesen, leichter kurzsichtig werden.
  • Nun präsentieren Forscher aus Tübingen eine mögliche Erklärung: Dunkle Buchstaben auf hellem Grund könnten für die wachsende Kurzsichtigkeit verantwortlich sein.
  • Schwarze Schrift aktiviert demnach bestimmte Sehzellen, die den Augapfel wachsen lassen. Dadurch wird es schwieriger, Dinge in der Ferne zu fokussieren.

Von Christina Berndt

Lesen erweitert den Horizont. So viel dürfte auch in Zeiten der Netflixmania noch Konsens sein. Das Problem ist nur, dass man Dinge am Horizont oft nicht mehr so gut erkennen kann, wenn man in seiner Jugend die Nase zu lang in Bücher gesteckt hat. Wer viel liest, wird leicht kurzsichtig, das haben Ärzte schon vor 150 Jahren an ihrer bildungsnahen Klientel erkannt. Inzwischen hat die Zahl der buchaffinen Brillenträger enorme Ausmaße erreicht: In Europa ist jeder zweite Abiturient kurzsichtig, während es nur 15 Prozent der 75-Jährigen sind. Und in südostasiatischen Akademikerhaushalten mit ihrer Rund-um-die-Uhr-Beschulung leiden sogar schon 80 Prozent an Myopie.

Lange haben Fachleute gedacht, die Augen würden eben zu träge zum Scharfstellen in der Ferne, wenn sie ständig aufs Fixieren von Buchseiten trainiert sind. Doch mehr und mehr wurde Tageslicht als wichtiger Faktor für gesunde Augen erkannt, und soeben haben Wissenschaftler vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde an der Universität Tübingen eine ganz neue Erklärung geliefert: Sie machen die gängige Art des Buchdrucks - dunkle Buchstaben vor hellem Grund - für die wachsende Kurzsichtigkeit der jungen Generation verantwortlich. "Schwarze Schrift auf weißem Papier aktiviert bestimmte Sehzellen", sagt Studienleiter Frank Schaeffel, "und diese sorgen dafür, dass der Augapfel wächst." Ein langer Augapfel aber heißt, dass der Punkt des schärfsten Sehens nicht auf, sondern vor der Netzhaut liegt - das Auge kann Dinge in der Ferne nicht mehr fokussieren.

"Hohes Risiko für langfristige Schäden"

Nun könnte man meinen, dass Kurzsichtigkeit für den Homo smartphonicus ein Entwicklungsfortschritt ist. Wer ohnehin ständig auf ein kleines Gerät glotzt, das er mit angewinkelten Armen hält, der ist als kurzsichtiges Exemplar seiner Art womöglich im Vorteil. Frank Schaeffel erkennt die evolutionäre Triebkraft des Lesens an: "Die Zunahme an Kurzsichtigkeit zeigt die bemerkenswerte Fähigkeit unseres Sehsystems, sich an geänderte Umweltbedingungen wie das viele Lesen anzupassen", sagt er. Ein Fortschritt sei das aber trotzdem nicht: "Starke Kurzsichtigkeit bringt ein hohes Risiko für langfristige Schäden mit sich", warnt Schaeffel, zum Beispiel für eine Netzhautdegeneration bis hin zu Blindheit.

Es gibt also gute Gründe, etwas gegen Kurzsichtigkeit zu tun. Aber was? Künftig nur noch Weiß auf Schwarz zu lesen? Um eine solche Empfehlung aussprechen zu können, müssten erst weitere Studien folgen, meint Wolf Lagrèze, Professor an der Universität Freiburg. Gesichert aber ist, dass Tageslicht hilft. "Raus mit den Kindern ins Freie", empfiehlt der Augenarzt - und zwar möglichst zwei Stunden pro Tag. Das könne das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bei 6- bis 16-Jährigen um die Hälfte mindern.

Dabei geht es nicht nur darum, das ständige Starren auf Bildschirme und Seiten zu unterbrechen, sondern auch viel Licht einzufangen. Denn selbst an einem trüben Tag ist es draußen mit 5000 Lux zehnmal so hell wie drinnen, und das Licht stoppt das Längenwachstum des Augapfels. Man kann es also auch so ausdrücken: Den richtigen Weitblick erhält erst, wer das Leben in seiner ganzen Breite erfährt - sowohl aus Büchern als auch in der Wirklichkeit.

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