Künstliche Kadaver:Die Menschenbauer aus Florida

Künstliche Kadaver: In den letzten paar Monaten haben sie den Medizinpuppen viele Namen aus 'Game of Thrones' vergeben, davor war 'Herr der Ringe' dran.

In den letzten paar Monaten haben sie den Medizinpuppen viele Namen aus 'Game of Thrones' vergeben, davor war 'Herr der Ringe' dran.

(Foto: Syndaver)

Sie bluten, atmen und haben einen Pulsschlag: Ein Unternehmen in Florida stellt "synthetische Kadaver" her - die echten sind nicht gut genug.

Reportage von Stefan Wagner, Tampa

Kevin King weiß, was ihm bevorsteht, wenn er beim Sicherheitscheck am Flughafen seinen Koffer öffnet. Die Blicke der Sicherheitsleute. Das Misstrauen. Die Fragen. Dann die behutsamen Berührungen dessen, was in seinem Carry-on-Koffer steckt. "Ein paar Mal habe ich gesagt 'Hey Leute, es ist alles ganz anders, als es aussieht!'", sagt King, "aber damit habe ich es nur noch schlimmer gemacht." In Kevin Kings Kabinengepäck liegen zwischen einem Kindle, Socken und gebügelten Hemden schon mal ein Hundekopf, ein menschliches Herz, ein Arm oder ein nackter Babykörper - alles natürlich aus Kunststoff, aber das weiß ja erst mal keiner. King, 46, Glatze, Khakihose, Polohemd, ist ein Handlungsreisender in Sachen Körperteile und Körper. Sein Job: Marketingchef für das US-Unternehmen Syndaver Labs, das sich darauf spezialisiert hat, die raffiniertesten Anatomiemodelle, Organmodelle und "synthetische Menschen" herzustellen.

Echte Leichen brauchen Kühlräume, teures Formaldehyd und halten nicht lange

Die Syndaver-Zentrale liegt in einem Industriegebiet in Tampa im Bundesstaat Florida zwischen Umzugsunternehmen, Baumärkten und einem großen Fliesenfachgeschäft. Von außen sieht das Gebäude aus wie eine x-beliebige Softwareschmiede oder ein Verwaltungsbau. Doch hinter den Mauern flechten Mitarbeiter in blauen OP-Kitteln Muskelstränge zusammen, entwerfen am Computer Lungenflügel oder diskutieren über die perfekte Farbe einer Milz. Andere rollen badewannengroße Bottiche in Kühlräume. Schieben sie zu schwungvoll, schwappt das Wasser aus der Wanne. Die darin dümpelnden Körper stoßen mit einem dumpfen Ton an die Plastikwände. In den Labors und Büros werkeln etwa 110 Menschen daran, den menschlichen Körper in all seiner Komplexität nachzubauen. Das Ziel: die "hyperrealistischsten Simulationspuppen, die man sich nur vorstellen kann", sagt Syndaver- Chef Christopher Sakezles, 53. Er sitzt in seinem gegen die grelle Sonne Floridas abgedunkelten Büro. Sakezles ist bleich, hat dicke schwarze Schatten unter den Augen. Er hat Syndaver 2004 gegründet, klar, in einer Garage "zwischen einer Waschmaschine und alten Fahrrädern", das übliche US-Start-up-Stereotyp.

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(Foto: Syndaver)

Angefangen hatte es damit, dass Sakezles im Studium (Polymer Science und Ingenieurwesen) eine künstliche Speiseröhre in die Finger bekam, mit der Medizinstudenten üben sollten "Es war einfach nur ein Schlauch aus Hartplastik", sagt Sakezles. "Es sah nicht aus wie eine Speiseröhre und fühlte sich auch nicht so an, es war einfach nur Schrott. Ich habe das Ding weggeworfen und in ein paar Nächten meine eigene Speiseröhrenattrappe gebastelt." Rasch merkte Sakezles, dass die meisten Übungspuppen und Trainingskörperteile für Mediziner wenig Ähnlichkeit mit echten Organen oder Körpern hatten. "Es dauerte ein paar Jahre", sagt Sakezles, "aber bald wusste ich: Das ist die Marktlücke." Es folgten Jahre des Tüftelns an dem, was seine Medizinmodelle so anders macht: "Unsere Syndaver, also synthetischen Kadaver, bestehen aus Wasser, Salzen und Geweben aus Kunstfasern - sonst nichts." Inzwischen hat er mehrere Hundert unterschiedliche Gewebearten entwickelt, ihre Zusammensetzung ist "top secret", Betriebsgeheimnis, schließlich ist sie die Grundlage des Erfolgs.

Die Syndavers atmen und bluten, eingebaute Software simuliert Schockzustände, verändert Blutdruck und Pulsschlag, lässt den Patienten im Extremfall sogar verbluten. Die Operateure können so üben, ohne gleich das Leben eines Menschen zu riskieren. "Die meisten angehenden Ärzte haben während der Ausbildung nicht die Möglichkeit, ein menschliches Herz in der Hand zu halten", sagt Sakezles, "mit den Modellen können sie das tun. Sie können sogar fühlen, wie es pulsiert und pumpt. Studenten lernen, eine künstliche Hüfte einzusetzen, mit dem Laser-Skalpell zu arbeiten oder einen Stent zu implantieren." Die Menschenbauer aus Florida entwerfen unterschiedliche Gewebefasern, je nach Organ, Muskel, Arterie oder Vene, und versuchen, sie den Originalen so ähnlich zu machen wie möglich.

Anatomiemodelle gibt es seit Jahrhunderten. Menschen versuchten schon immer, Menschen nachzubauen. Aus Textilien und Leder, aus Wachs, aus Plastik oder aus echten Knochen. Je lebensähnlicher, desto besser. Medizinstudenten lernen Eingriffe an echten Menschen- oder Tierleichen, doch das ist teuer und aufwendig. Die Leichen müssen transportiert und aufbewahrt werden, es gibt Vorschriften, Auflagen und Formulare, man braucht Kühlräume und teures Formaldehyd, in dem die Körper konserviert werden können. Außerdem ist die physische Konsistenz von toten Menschen anders als die von Lebenden. Und nicht zuletzt gibt es zu wenig Nachschub an Leichen, die zur Verwendung in der Anatomie zur Verfügung stehen. Die "synthetischen Kadaver" von Syndaver kosten zwar auch zwischen 70 000 und 190 000 Dollar ("der Cadillac unter den Körpern"), sind aber wiederverwendbar und halten bei richtiger Lagerung viele Jahre.

Künstliche Kadaver: Nur mal üben: Operation am Kunstkörper.

Nur mal üben: Operation am Kunstkörper.

(Foto: Syndaver)

Die Büros, Werkstätten und Labors der Körperbauerfirma wirken wie die unheimliche Mischung aus einem Designstudio, einem Operationssaal und der Requisitenkammer eines Horrorfilms. In der Entwicklungsabteilung brüten Designer und Künstler vor Computerbildschirmen, auf denen ein schematischer Pferdekopf zu sehen ist. Zwei junge Frauen mit Kopfhörern vermessen im nächsten Raum fein säuberlich auf Metalltischen aufgereihte Armknochen. Nebenan blubbern in großen Behältern Flüssigkeiten in verschiedenen Gelb- und Orangetönen. Ein Mitarbeiter bemalt Muskelstränge, eine Pumpe treibt rote Flüssigkeit durch ein Gefäßsystem, um dessen Dichtigkeit zu überprüfen. 3-D-Drucker laufen Tag und Nacht, um Körperteile herzustellen. Därme schwimmen in einer Badewanne. Auf Dutzende viereckige Plastikbehälter hat jemand mit dickem Filzstift den Inhalt geschrieben: Bizepsmuskeln, Nackenmuskeln, Vaginen, Herzen, Nieren.

Hier arbeitet eine bunte Truppe moderner Frankensteins, Maler, Chemiker, Ex-Soldaten

In der "Final Assembly" - der Endmontage also - nähen Frauen mit gelben Plastikfäden Muskeln, Organe, Sehnen und Knochen zusammen. Jojo Allen arbeitet hier. Sie ist 45 Jahre alt und hat, so sagt sie, schon so ziemlich jeden Job gemacht, den man sich vorstellen kann. Seit drei Jahren baut sie nun Körper. "Es hat Monate gedauert, bis ich einen ganzen Menschen fehlerfrei zusammengesetzt habe", sagt sie in ihrer Mittagspause, die sie auf dem Parkplatz vor den Labors verbringt. "Ohne gute Hand-Auge-Koordination braucht man hier nicht anfangen." Sie beißt in ein kaltes Stück Salamipizza. "Am besten stellen sich Mitarbeiter an, die vorher in der Modebranche oder als Sanitäter gearbeitet haben." Sie grinst. "Die einen können gut nähen, die anderen müssen das Innenleben eines Körpers nicht aus dem Lehrbuch lernen." Der beste Moment, sagt Allen, sei der, wenn ein Körper fertig sei. "Dann dürfen wir den Syndaver benennen. Wir schreiben einen Namen auf einen Zettel und hängen ihn um einen großen Zeh, wie im Krimi." Jeder Name darf nur einmal vergeben werden, schließlich ist jede Puppe ein handgefertigtes Unikat. Allen raucht noch schnell eine E-Zigarette, bevor sie zurückgeht, ein hautloser Körper wartet darauf, mit Haut bezogen zu werden. "In den letzten paar Monaten haben wir viele Namen aus 'Game of Thrones' vergeben, davor war 'Herr der Ringe' dran." Zurzeit werden Enid, Freddie, Milo und Nemo fertiggestellt.

Es ist ein bunte Truppe aus modernen Frankensteins, die hier arbeitet. Maler, Bildhauer, Computerdesigner, Chemiker, Ingenieure, Ex-Soldaten, ein früherer Mitarbeiter der Küstenwache. "Wir haben sogar einen Juwelier und eine Keramikerin", sagt Gründer Sakezles. "Für einen ganzen Körper brauchen wir etwa 800 Stunden, ganz besonders ausgefallene superdetaillierte Meisterstücke dauern bis zu 2200 Arbeitsstunden in der Herstellung." Jeden Tag werden zwei bis drei Körper fertig.

"Wir brauchen etwa sieben bis zehn Leichen im Monat"

Im Januar vergangenen Jahres hat Syndaver die britische Firma Lifecast gekauft. Lifecast ist in Filmkreisen berühmt für den Bau realistischer Puppen. Wenn in Filmen wie "Der Soldat James Ryan", "Gladiator" oder "Black Hawk Down" Menschen in Gefechten zerfetzt werden oder abgetrennte Körperteile groß ins Bild kommen, ist häufig Lifecast dafür verantwortlich, dass alles realistisch aussieht. "Lifecast hat perfektioniert, wie Menschen von außen aussehen", sagt Sakezles, "wir haben perfektioniert, wie Menschen unter der Oberfläche aussehen." Er schlägt seine beiden Handflächen aufeinander. "Boom! Perfekte Ergänzung!"

Es ist genau diese Detailgenauigkeit und vermeintliche Echtheit, die die Kunden des Unternehmens so schätzen. Jackie Langford leitet die Healthcare-Simulation-Abteilung am Collin-College in McKinney (Bundesstaat Texas). Er hat bisher zwei Ganzkörperpuppen, drei Rümpfe und einige Hirne und Herzen bei der Firma in Florida gekauft. "Die Darstellung der Körperteile ist akkurat, ebenso das Gewicht, die Größe und wie sie sich anfühlen", sagt er. "Bei echten Leichen, an denen unsere Studenten üben, haben die meisten Organe so ungefähr dieselbe Farbe. Die Farben der Organe der Syndaver-Puppen dagegen ähneln denen eines lebendigen Menschen."

Künstliche Kadaver: Seit wenigen Monaten hat Syndaver den "weltweit ersten synthetischen Hund" im Angebot.

Seit wenigen Monaten hat Syndaver den "weltweit ersten synthetischen Hund" im Angebot.

(Foto: Syndaver)

Statt mit Hartplastikteilen zu hantieren, die, puzzleartig zusammengesetzt, einen menschlichen Oberkörper bilden, lernen Langfords Studenten mit den High-tech-Puppen nicht nur die Anatomie besser, sondern auch die Physiologie, also das Zusammenwirken der Einzelbestandteile. "Echte Leichen kosten ein paar Tausend Dollar, aber der Zustand verschlechtert sich natürlich, sodass wir sie nach etwa zwei Monaten entsorgen müssen. Und wir brauchen etwa sieben bis zehn Leichen im Monat. Bei den Modellen kann man einfach beschädigte Teile austauschen."

Die Puppen seien so realistisch, erzählt Langford dann noch, dass einmal ein Student beim ersten Anblick in Ohnmacht gefallen sei. "Seitdem decken wir die Syndavers immer zunächst mit einem Tuch ab, bereiten die Studenten darauf vor, was sie sehen werden und nehmen dann das Tuch weg."

Seit wenigen Monaten hat die Firma den weltweit ersten, synthetischen Hund im Angebot

Diese emotionale Beziehung zu etwas, das echt wirke, sei entscheidend, meint Marketingmann Kevin King (der mit dem Baby im Handgepäck): "Schließlich sind es echte Menschen, mit denen Medizinstudenten es nach dem Studium zu tun bekommen werden und nicht Konstruktionen aus Gummi mit Plastikschläuchen drin." Derzeit arbeitet das Labor daran, die Elastizität und den Widerstand echter Haut besser zu simulieren, mit einem Spezialnetz Wundnähte zu imitieren und Tumore realitätsnaher zu bauen. In anderen Experimenten versucht man Fäkalgeruch nachzubilden, um die Arbeit an Därmen besser zu simulieren. Allem Perfektionsdrang zum Trotz gibt King sich bescheiden: "Wir werden nie künstlich einen Menschen herstellen können." Er macht eine Kunstpause. "Aber wir können eine Puppe bauen, die einem echten Menschen verdammt nahekommt."

Dabei geht es nicht nur um Menschen. Millionen Tiere werden jedes Jahr auch getötet, um medizinische Geräte zu testen oder Medizinstudenten das Üben von Operationstechniken zu ermöglichen. Besonders die Tiermedizin steht vor einem Dilemma: Die Studenten dürfen nicht an erkrankten, sondern nur an toten Tieren operieren, was natürlich weitaus weniger realitätsnah ist. Andrea Meyer-Lindenberg, Klinikvorstand und Professorin für Chirurgie der Kleintiere an der Tierärztlichen Fakultät der LMU in München, sagt: "Wenn es um Fertigkeiten wie Nähtechniken, Intubieren oder das Katheterisieren geht, sind die Syndaver-Modelle sicher sehr nützlich, um lebensechte Zustände zu simulieren." Die derzeit gebräuchlichen Puppen, Dummies genannt, seien primitiv und nicht naturgetreu. "Wir hätten gern bessere Modelle, aber das ist immer eine Kostenfrage."

Seit wenigen Monaten hat Syndaver den "weltweit ersten synthetischen Hund" im Angebot. Katzen und Pferde sollen folgen. Aber die meiste Faszination ziehen die Menschendummies auf sich. "Wenn wir Gespräche mit Investoren haben", sagt Firmengründer Sakezles, "erkundigen sich die meisten, ob wir nicht auch Sexpuppen herstellen könnten." Er verzieht den Mund zu einem säuerlichen Grinsen, zu oft hat er die Anekdote schon erzählt. "Das machen wir natürlich nicht." Ernst blickt Sakezles über sein Reich mit den aufgehängten Muskelsträngen, den Nierenbehältern, den großen Bottichen mit menschlichen Oberkörpern und den Tischen auf denen halbfertige 100 000-Dollar-Modelle liegen. "So ganz normal ist unser Business natürlich nicht."

Neulich, erzählt später eine Endmontage-Mitarbeiterin, neulich sei sogar die Polizei auf dem Firmengelände gewesen. Ein vorbeifahrender Autofahrer habe die Notrufnummer angerufen. Er habe beobachtet, dass auf der Laderampe neben einem Gebäude mit der Aufschrift Syndaver zwei Männer versucht hätten, eine Leiche in einer großen Plastikkiste verschwinden zu lassen.

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