Künstliche Intelligenz (KI) wird die Medizin zur besten je dagewesenen Medizin machen. Sie wird Millionen Menschen Leid ersparen und die Gesundheitssysteme weltweit gerechter, menschlicher, effizienter und sicherer machen. Klingt übertrieben? Ist es aber - sehr wahrscheinlich - nicht.
Medizinische KI-Systeme sind eine weitere Technologie, die dem Menschen hilft, die Grenzen seines Körpers und seines Geistes zu überschreiten. Er hat den Pflug erfunden, weil er mit der Hand keine großen Ackerflächen umgraben kann; das Auto, weil er zu Fuß nicht sehr schnell weit kommt; den elektrischen Generator, weil er nicht von alleine Strom erzeugen kann. Nun steht der Mensch vor der Aufgabe, Billiarden von Gesundheitswerten, die heute beim Arzt und in der Klinik anfallen, nach relevanten Mustern zu durchsuchen. Allein mit seinem Hirn wird er das nicht schaffen. Jeder, der schon einmal versucht hat, eine lose Sammlung von Zahlen in einer Excel-Datei nach einer Logik zu ordnen, weiß: Es ist extrem mühsam, beinahe unmöglich. Wie wäre es, wenn eine Maschine diese Aufgabe übernähme?
KI-Systeme sind ohnehin schon längst dabei, die gigantischen Datensätze zu analysieren, die jede Sekunde um den Globus geschickt werden - und nicht wenige davon kommen bereits aus der Medizin. Es ist daher überhaupt nicht mehr die Frage, ob künstliche Intelligenz die Welt und damit auch die Medizin weiter verändern wird - sondern nur wann und wie.
Künstliche Intelligenz:So funktioniert KI in der Medizin
Am Anfang steht eine große Masse an Daten. Dann kommen algorithmische Systeme ins Spiel.
Die Einschätzung mancher Kritiker, die Technologie sei bloß ein Hype, ist eine gefährliche Fehleinschätzung. Wer sich weigert, neue medizinische Daten zu nutzen, der raubt dem Gesundheitssystem seine Zukunft. Wer will das?
Wie gut wäre es, wenn die KI einen Großteil der medizinischen Fließbandarbeit übernähme!
Die Skepsis gegenüber künstlicher Intelligenz liegt häufig an der Vorstellung, dass sie angeblich versucht, den Menschen zu imitieren und letztlich zu ersetzen. Das klingt gruselig oder ziemlich unmöglich, je nach Perspektive. Tatsächlich ist diese Angst unbegründet, denn selbstlernende algorithmische Systeme, um die es eigentlich geht, sind nicht intelligent im menschlichen Sinne. Sie haben kein Bauchgefühl, können Gelerntes nicht ohne Weiteres auf andere Probleme übertragen, sie haben kein Bewusstsein und sind schon gar nicht in der Lage, sich selbst zu hinterfragen.
Selbstlernende algorithmische Systeme machen - grob vereinfacht - nichts anderes, als in einem riesigen Datenhaufen selbständig nach Mustern zu suchen, die der Mensch nicht oder nur mit größter Anstrengung erkennen würde. Deshalb eignen sich solche Systeme insbesondere für repetitive Aufgaben wie etwa die Suche nach Auffälligkeiten, Abweichungen oder Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel in Computertomografie-Scans, die Ärzte jeden Tag hundertfach in den Krankenhäusern anfertigen lassen.
Das bringt enorme Vorteile. Denn erstens können die Systeme relevante Muster erkennen, nach denen der Mensch womöglich überhaupt nie gesucht hätte. Zudem werden sie, anders als Radiologen, nie müde oder frustriert. Sie arbeiten ohne Pause und können theoretisch unbegrenzt mit weiteren Daten gefüttert werden: Sie lernen, lernen, lernen. KI-Algorithmen nehmen den Menschen also gerade jene Tätigkeiten ab, die sie entmenschlichen.
Zahlreiche Untersuchungen beweisen eindrücklich, dass KI-Systeme dabei sehr gut sind und - zum Beispiel - zuverlässig Bilder bewerten können. So zeigte etwa eine aufsehenerregende Studie aus Stanford, erschienen im Fachmagazin Nature, dass selbstlernende Algorithmen Hautkrebs ähnlich kompetent oder sogar besser klassifizieren wie Dermatologen.
Auch wenn das Ergebnis der Studie nicht ohne Einschränkung in den Alltag der Medizin zu überführen ist, zeigt sie dennoch das gewaltige Potenzial der Technologie. So sind es häufig Allgemeinärzte, die eine auffällige Hautstelle wie etwa einen Leberfleck einschätzen müssen. KI-Systeme bieten hier wie in vielen anderen Bereichen eine gute Unterstützung. Eine weitere in Nature erschienene Studie zeigt, dass die Kombination aus Algorithmus und Arzt eine besonders geringe Fehlerquote etwa bei der Beurteilung von MRT-Aufnahmen aufweist. Human-in-the-loop heißt diese Zusammenarbeit in der Fachsprache. Sie wird bald der Goldstandard moderner Medizin sein. KI-Systeme werden eben nicht Ärzte ersetzen, sondern entlasten, damit sie mehr Zeit für das haben, was Patienten heute oft vermissen: Gespräche, Empathie, Menschlichkeit.
Medizin ist heute häufig Fließbandarbeit, was auch ein Grund dafür ist, weshalb ihr so viel Misstrauen entgegenschlägt. Welch eine Verbesserung wäre es, wenn algorithmische Systeme einen Teil dieser Arbeit übernähmen! Effizienzsteigerung bedeutet nicht Turbo-Kapitalismus, sondern unterstützt eine fehlerarme und menschliche Krankenversorgung. Menschen wollen mit Ärztinnen und Ärzten aus Fleisch und Blut sprechen, aber sie wollen eben auch, dass diese ausgeruht und auf dem Stand der Forschung Entscheidungen für sie treffen - das ist möglich, dank KI.
Es geht darum, Menschen auf Basis der bereits heute weltweit vorhandenen Informationen zu behandeln und im Idealfall zu heilen - eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch noch immer, man mag es kaum glauben, werden in Krankenhäusern Patientendaten wie Körpertemperatur oder Blutdruck mit Bleistift und Radiergummi dokumentiert, ein Verfahren mit extrem hoher Fehlergefahr - hatte der Patient jetzt 38,7 oder 37,8 Grad?
Diese Daten sind zugleich ein ungehobener Schatz; es sind Daten, die unverknüpft in Papierakten schlummern, von denen aber Millionen Patienten profitieren könnten. Algorithmische Systeme sind in der Lage, diese Werte in Relation zueinander zu stellen und Trends zu erkennen. Schon heute warnen sie in manchen Kliniken, dass sich der Zustand eines Patienten verschlechtern könnte - und zwar noch bevor dies tatsächlich passiert. KI-Systeme können sogar Biomarker für einzelne Krankheiten bestimmen oder Therapieerfolge prognostizieren. Die Entscheidung aber, wie der Patient behandelt wird, trifft weiterhin ein Mensch.
Diese Form der technischen Innovation also ist keine PR geldgieriger Privatkliniken, sondern Grundlage einer präventiven Medizin der Zukunft, die viel Leid ersparen kann. Dazu gehört auch die Eindämmung eigentlich unnötiger Behandlungen. So zeigt eine Studie im Fachmagazin Radiology, dass unter Zuhilfenahme algorithmischer Systeme bei der Brustkrebsdiagnose die Zahl der Operationen um bis zu 30 Prozent gesenkt werden könnte.
Außerdem helfen die Systeme, extrem seltene Krankheiten zu erkennen, die sonst nur Ärzte mit großer Erfahrung oder Spezialisierung diagnostizieren können. Dabei ist es egal, wo auf der Welt die Daten verwendet werden. Das ermöglichte eine neue Form der globalen Gesundheitsgerechtigkeit. Schon heute können KI-Systeme Befunde auswerten, um etwa Helfer in entlegenen Gebieten Indiens oder Afrikas bei der Entscheidung zu unterstützen, welcher der vielen Patienten dringend einen Arzt aufsuchen sollte - und welcher nicht.
Auch in Deutschland können algorithmische Systeme außerhalb von Kliniken moderne Medizin anbieten. Sie überprüfen etwa Blutdruck und EKG-Daten herzkranker Patienten und melden Auffälligkeiten an den behandelnden Arzt. Dies ermöglicht eine engmaschige Kontrolle und erspart den Patienten zudem manchen Arztbesuch, der für sie mitunter mühsam ist.
Unabhängige Experten müssen jederzeit nachvollziehen können, wie die Algorithmen entscheiden
Damit sich solche Anwendungen tatsächlich durchsetzen, ist es wichtig, die Kritik an den Systemen ernst zu nehmen. Eine aktuelle Meta-Studie, erschienen im Fachmagazin The La ncet, etwa befand weniger als ein Prozent von mehr als 20 000 KI-Studien zur medizinischen Bilddiagnostik als vertrauenswürdig - gefundenes Fressen für Skeptiker. Tatsächlich aber zeigt diese vor allem, dass es bessere Studien braucht, um die klinische Tauglichkeit der Systeme im Alltag zu testen. Dies ist zugleich auch eine Antwort auf den Vorwurf, dass datengetriebene Forschung zu sehr auf Korrelationen, denn auf Kausalitäten setze. Denn dank KI-Systeme lassen sich zum Beispiel neue Hypothesen zu Medikamentennebenwirkungen gezielt aufstellen, an die man bislang nicht gedacht hatte. Endgültige Klarheit muss dann immer eine gezielte Studie bringen.
Wer diese Schritte nicht gehen möchte, überlässt privaten Playern das Feld, die dann schon bald nicht mehr einzuholen sein werden. Öffentliche Gesundheitsversorgung aber darf nicht abhängig von Tech-Giganten wie Google werden. Es ist daher dringend geboten, dass der Staat Geld in Forschung steckt, Universitätskliniken zu Orten der Zukunft macht, die so gut sind, dass sich Silicon-Valley-Programmierer nicht wie bisher über sie kaputtlachen, sondern dort arbeiten wollen.
Dies wäre zudem eine Antwort auf zwei durchaus berechtigte Sorgen bei der KI-Revolution: Erstens ist es fundamental wichtig, dass Patientendaten geschützt sind, um Missbrauch zu vermeiden. Es wäre ein Fiasko, wenn KI-Systeme dazu beitragen, bestimmte Patientengruppen zu diskriminieren. So zeigte eine Studie in Science, wie Algorithmen schwarze Menschen in US- Krankenhäusern systematisch benachteiligten und diese dadurch tatsächlich schlechter versorgt wurden.
Und zweitens braucht es Einblick in die Architektur der Systeme. Denn auch Algorithmen machen Fehler und können auf Basis falscher Vorannahmen falsche Ergebnisse produzieren. Es muss daher für unabhängige Experten jederzeit nachvollziehbar sein, nach welchen Kriterien Algorithmen Entscheidungen treffen. Diese Logiken müssen selbstverständlich ethischen und rechtlichen Ansprüchen genügen.
Nur: Diese genannten Einschränkungen sind keine Argumente per se gegen den Einsatz von KI-Systemen in der Medizin. Denn nicht Technik betreibt Missbrauch, sondern Menschen.
Blinde Begeisterung ist genauso fehl am Platz wie pures Misstrauen. Um einen optimalen Einsatz in der Medizin zu garantieren, muss klar sein, dass KI-Systeme keine Superkräfte haben, die schon bald Krebs und MS heilen werden. Und doch sind sie wertvolle Werkzeuge, die den Ärzten die diagnostische Puzzlearbeit erleichtern und sie im Alltag entlasten. Sie können dazu beitragen, dass sich die Medizin, wie anfangs erwähnt, fundamental wandelt, hin zu einer gerechteren, menschlicheren, kurzum: zu einer besseren Medizin weltweit.