Süddeutsche Zeitung

Künstliche Befruchtung:Wenn Mütter ihre Kinder opfern

Künstliche Befruchtungen führen häufig zu risikoreichen Mehrlingsschwangerschaften. Ärzte raten dann bisweilen, aus Drillingen ein oder zwei Kinder zu machen. Eine schwere Entscheidung, die Eltern an ihre Grenzen bringt.

Von Andreas Glas

Der Tag, an dem Nikola Weber ihre Kinder tötet, ist ein Mittwoch im Juli. Draußen Sonne, drinnen Kunstlicht und Kacheln. Ein Arzt drückt das Gift in Nikola Webers Bauch und setzt die Spritze direkt ins Herz des Embryos. Kaliumchlorid, nur ein paar Milliliter. Eigentlich ist das genug, um zwei Herzen zu lähmen, die klein sind wie Streichholzköpfe. Die Ärzte schauen auf den Monitor, zehn Minuten lang. Sie sehen, wie das erste Herz langsamer schlägt, wie es irgendwann stehen bleibt. Und warten, bis auch das zweite Herz aufhört zu pochen. Aber es hört nicht auf.

Wenig später sitzt Nikola Weber in der Klinik-Cafeteria. Sie solle sich ablenken, haben die Ärzte gesagt, und warten, bis ihr Kind aufhört zu kämpfen. Also sitzt sie da und stellt sich vor, sie hätte ein Schild um den Hals. Ein Schild, auf dem steht: Ich bringe gerade meine Kinder um. Sie stellt sich vor, wie die Leute in der Cafeteria Steine nach ihr werfen. Als sie in den OP-Saal zurückkehrt, lebt ihr Kind immer noch. Ein Arzt setzt eine zweite Spritze. Bald sind auf dem Monitor zwei Körper ohne Herzschlag zu sehen. Nur ein Stückchen weiter links, da blinkt ein kleiner Punkt. Das Herz des dritten Drillings. Leons Herz. Nikola Weber hat getötet, um Leon ein gesundes Leben zu schenken.

Mediziner nennen es Reduktion, wenn sie Kinder für Kinder opfern. Wenn sie Frauen raten, nur ein oder zwei Babys auszutragen statt Drillinge, Vierlinge oder gar Fünflinge. Die Hälfte aller Mehrlinge kommt zu früh zur Welt, oft mit Untergewicht, das Risiko für Hirnschäden ist groß. Die Spritze kann dieses Risiko verkleinern und Leben retten. Und trotzdem: Die Spritze tötet, manchmal willkürlich. Sind alle Föten gleich gut entwickelt, muss derjenige sterben, den der Arzt am besten erreichen kann.

Die Reduktion ist der Kollateralschaden der künstlichen Befruchtung. Je mehr Eizellen der Arzt einer Frau einsetzt, desto höher ist die Chance, schwanger zu werden. Drei Eizellen sind erlaubt, drei werden oft eingesetzt. Wie beim Poker: Wer gewinnen will, geht all in. Dass damit auch die Wahrscheinlichkeit einer Mehrlingsschwangerschaft steigt, nehmen Ärzte und Eltern in Kauf. Die Reduktion vertuscht damit den brutalsten Kunstfehler der Reproduktionsmedizin.

Seit 1982 ist künstliche Befruchtung in der Bundesrepublik erlaubt, seitdem haben sich die Drillingsschwangerschaften vervielfacht - und damit auch die Zahl der Reduktionen. Die aktuellsten Daten stammen aus dem Jahr 2012 vom Deutschen IVF-Register (In-vitro-Fertilisation). Demnach gab es 254 Reduktionen, bei denen insgesamt 380 Embryonen reduziert wurden. Das ist - seit Beginn der Registrierung im Jahr 2004 - der höchste Stand.

"Im Nachhinein war es blauäugig", sagt Nikola Weber, die eigentlich anders heißt. Sie sitzt im Wohnzimmer, nebenan schläft der kleine Leon, er ist jetzt zwei Jahre alt. Mit ihrem Mann und den zwei Söhnen wohnt sie in einer Reihenhaussiedlung in Süddeutschland. Das Wohnzimmer, die Siedlung, alles wirkt aufgeräumt. Nur Nikola Weber nicht.

Die Ultraschallbilder ihrer Drillinge hat sie verbrannt, das Schuldgefühl ist noch da. "Das kann keiner verstehen, der nicht in unserer Situation war", sagt Nikola Weber. Sie meint die Zeit, in der sie und ihr Mann sich so sehr ein Kind gewünscht haben. Sie weiß nicht mehr, wie viele Schwangerschaftstests sie gekauft hat, aber an das Scheißgefühl, wenn der Teststreifen wieder nicht blau wurde, daran erinnert sie sich genau. Vier Jahre Scheißgefühl, Monat für Monat. "Umso länger es dauert, umso mehr riskiert man", sagt Nikola Weber über den Tag, als der Arzt wissen will, wie viele Eizellen er einsetzen soll.

Die Webers entscheiden sich für zwei Zellen. Doppelte Chance, doppeltes Risiko. "Das ist ein Moment, in dem du einfach nicht weiterdenkst, du willst nur schwanger werden", sagt Nikola Weber.

Es klappt, eine Zelle wird befruchtet, die Webers bekommen einen gesunden Sohn und nennen ihn Sören. Eineinhalb Jahre später sitzen die Webers wieder beim Arzt. Wieder zwei Eizellen, wieder wird sie auf Anhieb schwanger, diesmal mit Drillingen. Diesmal gibt es noch ein Problem: Drei Kinder müssen um einen Mutterkuchen kämpfen. Kann sein, dass einer oder beide unterversorgt werden und behindert zur Welt kommen. Und weil Drillinge fast immer Frühgeburten sind, könnte auch der dritte Embryo Schaden abkriegen. Andererseits: Es kann auch gut gehen und alle drei bleiben gesund. "Das war ja die Schwierigkeit", sagt Nikola Weber.

"Man wählt von zwei Übeln das weniger üble", sagt Annegret Geipel. Sie leitet die Abteilung für Geburtshilfe und Pränatale Medizin an der Uniklinik Bonn und ist eine von ganz wenigen Ärzten, die in Deutschland die Reduktion durchführen. "Eine Routineangelegenheit ist das nicht", sagt Geipel, "man fühlt sich nie gut dabei." Sie tut es trotzdem, mehrmals pro Monat. Weil sie weiß, wie riskant eine Mehrlingsschwangerschaft ist, und welche Angst dieses Risiko den Eltern einjagt.

"Das Erwachen kommt hinterher"

Am Ende, sagt Geipel, zähle für die meisten Eltern nur, dass ihre Kinder gesund sind. Man müsse respektieren, wenn Eltern sich nicht stark genug fühlen, eines oder mehrere behinderte Kinder großzuziehen. Kein Verständnis hat Geipel dagegen für die Ärzte, die ihre Patienten nicht genug über die Risiken der künstlichen Befruchtung aufklären. Das passiere viel zu oft, sagt Geipel: "Das Erwachen kommt dann hinterher."

Dass sie viel riskiert hat, dafür macht Nikola Weber auch die Ärzte verantwortlich. Wie gefährlich eine Mehrlingsschwangerschaft sein kann, habe ihr niemand gesagt. "Und dann gab es noch den finanziellen Aspekt", sagt sie. Eine künstliche Befruchtung kostet mehrere Tausend Euro. Viel Geld, das in drei Eizellen besser angelegt ist als in einer, jedenfalls kaufmännisch gesehen.

Man fühle sich allein gelassen, sagt sie. Von den Krankenkassen, die nur drei Versuche einer künstlichen Befruchtung anteilig bezahlen. Von der Gesellschaft, die Druck macht, trotz der hohen Kosten Kinder zu kriegen. Und von der Medizin, die auf Schwangerschaftsquoten fixiert ist. Viele Kinderwunschzentren werben sogar damit: umso höher die Quote, umso mehr "Kundschaft".

Nach der Drillings-Diagnose sei ihre größte Sorge der kleine Sören gewesen, damals zwei Jahre alt: "Ich habe ihn angeschaut und gedacht: Wenn wir drei kranke Kinder kriegen, wird Mama keine Zeit mehr für dich haben, vielleicht geht Mama sogar drauf bei der Geburt." Sie habe gespürt, dass ihr Mann die Reduktion wollte, "aber er hat immer nur gesagt: Ich unterstütze dich, egal wie du dich entscheidest." Er meinte das nicht böse, aber er schob die Verantwortung weg. Und irgendwie auch seine Frau.

Nikola Weber suchte im Internet nach Rat, in einem Kinderwunsch-Forum. Ein heikler Ort, wie die Kommentare auf solchen Seiten zeigen. Eine Userin schreibt: "Ich könnte meinem bleibendenˊ Kind nicht in die Augen schauen, wenn ich seine Geschwister abgetrieben habe." Eine andere findet, es hätte "euch vorher klar sein sollen, dass bei künstlicher Befruchtung Drillinge entstehen können." Und weiter: "Ihr wolltet Kinder haben (. . .) und jetzt wollt ihr eines (. . .) umbringen lassen?"

Harte Worte, die viele Fragen aufwerfen: Darf man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Und darf man die Chancen der Reproduktionsmedizin ausreizen, ohne hinterher die Verantwortung für ein behindertes Kind zu tragen? Fragt man die Deutschen, sagen zwei von drei Frauen, dass sie ein behindertes Kind annehmen könnten. Man gibt sich verantwortungsbewusst, doch die Wahrheit sieht anders aus. Beispiel Down-Syndrom: In Deutschland werden 95 Prozent aller Embryonen mit Down-Syndrom abgetrieben. Nikola Weber fühlt sich darin bestätigt: "Wenn mich jemand moralisch verurteilt, ist er nicht ehrlich. Niemand wünscht sich ein behindertes Kind."

Auch Mandy Korb hat sich kein behindertes Kind gewünscht. Sie hat sich überhaupt kein Kind gewünscht, schließlich hatte sie ja schon drei. Ein Arzt hatte ihr versichert, dass sie mit ihren 34 Jahren keine Kinder mehr kriegen könne, und sich daher um Verhütung keine Sorgen machen müsse. Also hat sie sich keine Sorgen gemacht. Und wurde schwanger. Mit Drillingen.

"Da geht einem der Arsch auf Grundeis", sagt Mandy Korb. Sie fläzt im Sofa, in Jogginghose, das Haar braun am Scheitel, blond in der Mitte, an den Spitzen wieder braun. Sie war im fünften Monat, als sie erfuhr, dass einer der Drillinge einen Herzfehler hat. "Große Baustelle, nicht lebensfähig", sagte der Arzt in der Kinderklinik. Und die anderen? Wahrscheinlich schwerstbehindert, sagte der Arzt und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Das Formular für die Reduktion. "Für ihn war klar, dass alle drei gehen müssen", erinnert sich Mandy Korb. Doch als sie die Klinik verließ, lag das Formular immer noch auf dem Tisch. Sie hatte es nicht mal angerührt.

Drei Jahre später marschiert Sten mit seinem Lauflernwagen durchs Wohnzimmer der Korbs. Er kann das nicht allein, Papa Sven muss ihn schieben und aufpassen, dass er nicht gegen Schränke und Stühle stößt. Sten trägt Ringellocken, Ringelpulli, ist blind und hat einen Wasserkopf.

Die Drillinge kamen zu früh, im siebten Monat schon. Kenny starb nach sechs Wochen an seinem Herzfehler, Bruno ist völlig gesund und Sten bekam nach drei Tagen eine Hirnblutung, später einen Schlaganfall. Sie haben ein Loch in seinen Kopf gebohrt, haben unter der Haut einen Schlauch verlegt, der Stens Hirnwasser in den Magen ableitet. "Der Neurologe meinte damals, der Sten wird ein Kind sein, das in der Ecke liegt, sich nicht bewegen kann und nicht mal mitkriegt, dass jemand im Raum ist", sagt Mandy Korb. Dann hebt sie ihre Hand und ruft: "Sten, wink mal der Mama!" Sten lacht. Und winkt zurück.

"Den Prognosen haben wir Gott sei Dank nicht geglaubt", sagt Mandy Korb. Sie schwimmen viel mit Sten, er bekommt Physiotherapie. Sie hoffen, dass er eines Tages mit dem Rolli ums Haus fahren, vielleicht sogar laufen kann. Deswegen hat Papa Sven draußen vor dem Holzhaus im Erzgebirge schon mal angefangen, den Weg zu pflastern. "Aber in Stens Kopf ist viel kaputt", sagt Mandy Korb. "Es kann auch sein, dass wir ihn vom einen auf den anderen Tag nicht mehr haben." Sie habe gewusst, dass es so kommen konnte, doch an eine Reduktion habe sie keine Sekunde gedacht. "Wozu bin ich denn Mama?", fragt sie, und antwortet gleich selbst: "Um für meine Kinder zu kämpfen."

Auch Nikola Weber hat gekämpft. Mit sich selbst, mit ihrem Gewissen und für Leon, ihren Drilling. So sieht sie das jedenfalls: "Ich wollte, dass Leon die Chance auf ein erfülltes Leben hat. Es war die richtige Entscheidung, alles andere wäre nicht vernünftig gewesen." Sie sagt, sie hoffe, dass Leon das versteht. Irgendwann, wenn er größer ist. Wenn sie ihm erzählt, dass er eigentlich zwei Geschwister hätte. Schwestern oder Brüder. "Ich weiß es ja nicht", sagt Nikola Weber.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2015
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