Das Unglück am Krebs ist ja: Selbst wenn ein großer Teil des Tumors während der Chemo- oder Strahlentherapie zugrundegeht, gibt es oft einzelne Zellen, die danach weiterwuchern. Weshalb das so ist, belegen britische Wissenschaftler nun eindrucksvoll: Die Krebszellen eines Patienten sind offenbar ausgesprochen unterschiedlich, berichten die Forscher im New England Journal of Medicine (Bd. 366, S. 883).
Demnach werden Ärzte einen Tumor ganz anders beurteilen, je nachdem, von welcher Stelle eines Krebsherdes sie eine Gewebeprobe entnehmen und untersuchen. Dass alle Zellen so unterschiedlich sind, füge dem Umgang mit Krebserkrankungen "eine weitere Ebene der Komplexität hinzu", sagte Studienleiter Charles Swanton vom Krebsinstitut des University College London der Zeitschrift Nature. "Es sieht aus wie ein Spaziergang im Park, aber in Wahrheit ist es wie der Flug zum Mond."
Swantons Team hatte sich die Tumore von vier Patienten mit Nierenzellkrebs genauer angesehen. Die Wissenschaftler entnahmen aus mehreren Regionen des ursprünglichen Krebsherdes, aber auch aus dessen Metastasen Gewebeproben und untersuchten diese mit allen erdenklichen Methoden der modernen Genetik. So analysierten sie Auffälligkeiten im Erbgut der Krebszellen genau, bestimmten, welche Gene gerade aktiv waren und wie es um die Struktur der Chromosomen in diesen Tumorstückchen bestellt war.
"Wir haben jede mögliche Technik eingesetzt", sagt Swanton. "Aber selbst damit haben wir nur an der Oberfläche gekratzt" - so heterogen seien die Krebszellen. Genetisch gebe es mehr Unterschiede zwischen ihnen als Ähnlichkeiten. "Das Ausmaß an Diversität in jedem Tumor ist verblüffend", sagt Swanton.
Die Ergebnisse decken sich mit weiteren jüngeren Berichten über Bauchspeicheldrüsenkrebs und Leukämien", sagt Andreas Trumpp vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). "Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass Tumorzellen ein Flickwerk von Fehlern sind", sagt auch Charles Swanton. Aber erstmals sei die genetische Landschaft von Tumoren in so außerordentlichem Detail kartiert worden.
Ein Krebs entsteht nach heutigem Kenntnisstand aus einer einzigen entarteten Krebsstammzelle, die sich immer wieder teilt. Eigentlich handelt es sich also um Klone von Zellen, erläutert Trumpp, der am DKFZ die Abteilung Krebs und Stammzellen leitet. Das sei aber kein Widerspruch zur großen genetischen Heterogenität von Tumoren. Bei jeder Teilung verändern sich die Krebszellen weiter: Häufig fallen genau jene Gene aus, die in gesunden Zellen darüber wachen, dass das Erbgut unverändert bleibt. Deshalb können sich Mutationen in Krebszellen umso schneller anhäufen. In Swantons Studie fanden sich nur etwa ein Drittel aller Mutationen in sämtlichen Proben eines Patienten; knapp die Hälfte gab es in den meisten Proben; ein Viertel der Mutationen aber trat jeweils nur in einer einzigen Probe auf.
Diese recht neue Sicht auf den Krebs als eine Anhäufung von vielen Unterkrebsen hat zahlreiche Implikationen für Diagnose und Therapie. So könnte es an der Vielfalt der Tumorzellen liegen, wenn der Krebs eines Patienten anders als erwartet auf eine Therapie nicht anspricht, sagt Swanton.
Auch kann die Heterogenität der Tumore erklären, weshalb Ärzte und Wissenschaftler seit Jahren mehr oder weniger vergeblich versuchen, sogenannte Biomarker für Krebs zu finden: Moleküle in den Tumoren oder im Blut also, die eine klare Aussage darüber erlauben, ob der Tumor streuen wird und auf welche Therapie er am ehesten ansprechen wird.
Doch mit Ausnahme mancher berühmt gewordener Marker wie Her2/neu, einem Protein auf der Oberfläche von Brustkrebszellen, das den Krebs empfindlich gegenüber dem Medikament Herceptin macht, sind sie bisher kaum fündig geworden. Kein Wunder, meint Charles Swanton, wenn Tumore doch in sich so unterschiedlich sind. Die Suche sei in den meisten Fällen ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen, weil dazu gemeinhin nur eine einzelne Gewebeprobe pro Patient herangezogen wird. "Eine Biopsie ist eben nicht die ganze Wahrheit", sagt auch Andreas Trumpp.
Künftig sollten Ärzte größeres Augenmerk darauf legen, welche Mutationen eines Tumors wirklich häufig sind, empfiehlt Swanton. Die Erkennung solcher "Schlüsselmutationen", die sich in allen Teilen des Tumors finden, führe womöglich zum Ziel. Das sei erst recht der Fall, wenn sie noch dazu zielgerichtet mit einem Medikament angesteuert werden können, wie dies bei Her2/neu und Herceptin der Fall ist. Oft aber, betont Andreas Trumpp, wird es eine solche Schlüsselmutation nicht geben. "Mit einer einzigen Therapieform werden wir einem Krebs in den allermeisten Fällen nicht Herr werden. Denn damit keine Zelle zurückbleibt und wieder zu einem neuen Krebs heranwächst, müssen wir alle Tumorzellen erwischen - so unterschiedlich sie auch sind."