Jürgen Windeler, seit September Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, zeigte, dass der Satz "Vorsorge rettet Leben" falsch ist, wenn es um die Früherkennung von Prostatakrebs mittels PSA geht. "Damit wird es zum Dauerzustand, dass immer mehr Menschen zu Krebspatienten werden, ohne dass es nötig wäre oder eine sinnvolle Therapieoption gibt", so Windeler. Operation oder Bestrahlung haben oft Inkontinenz oder Impotenz zur Folge.
Die rektale Untersuchung mit dem Finger sei noch schlimmer - eine "ebenso entwürdigende wie symbolhafte Handlung, zu deren Nutzen keine ernsthaften Studien vorliegen". Der Einsatz des PSA habe Windeler zufolge dazu geführt, dass 40 bis 50 Prozent der im Screening entdeckten Prostata-Karzinome prognostisch günstig seien - und die Ärzte nicht wüssten, was sie gegen diese Tumore unternehmen sollten, von denen die Männer zeitlebens nie etwas bemerkt hätten.
Die Ärzte gehen auf wunderliche Weise mit diesen Erkenntnissen um. In der jüngsten Leitlinie der Urologen aus dem Jahr 2009 steht zwar, es sei nicht belegt, dass ein PSA-Screening "und damit verbundene Risiken diagnostischer und therapeutischer Konsequenzen durch eine Lebensverlängerung aufgewogen werden". Trotzdem soll "Männern mit dem Wunsch nach einer Früherkennungsuntersuchung auf ein Prostatakarzinom die Bestimmung des PSA und eine digitale rektale Untersuchung empfohlen werden". In Tutzing wurde bezweifelt, dass Männer mit dem Wunsch nach Früherkennung in die Praxis kommen - eher stimulieren Ärzte die Nachfrage.
Nachdem Ingrid Mühlhauser gezeigt hatte, dass auch bei der Früherkennung von Brustkrebs der belegbare Nutzen allenfalls marginal ist, kam es im Auditorium schnell zu einer ablehnenden Haltung. Bei Darmkrebs lassen sich zwar Krebsvorstufen entfernen, was tatsächlich den Begriff "Vorsorge" rechtfertigt.
Doch auch in diesem Fall überwiegen die Vorteile nicht eindeutig, wie die Diskussion zeigte. Jürgen Windeler betonte, dass sich trefflich darüber streiten ließe, ob bei Früherkennungstests einer, zwei oder keiner von 1000 Teilnehmern vom Screening profitieren. "So lange nicht 30 oder gar 300 von 1000 einen Nutzen haben, könnten der riesige Aufwand und die kleinen Effekte Anlass bieten, über den Sinn der Früherkennung nachzudenken."
Man müsse aber den Schwenk von Organisationen wie der Krebshilfe anerkennen, die früher "Reklame betrieben" hätten mit dem Ziel, die Teilnahme zu steigern, und heute ausgewogen informieren, um die Entscheidung für oder gegen eine Untersuchung zu erleichtern.
Christian Weymayr wies darauf hin, dass für die Entscheidung neben Epidemiologie und Statistik auch das individuelle Risiko und die subjektive Einstellung eine Rolle spielten. Der Psychiater Klaus Dörner, bei dem vor zwölf Jahren Darmkrebs festgestellt wurde, zeigte die Paradoxien, die Patienten begegnen, die den richtigen Weg finden wollen.
Um das Vertrauen in die Medizin zu behalten, habe es ihm geholfen, so Dörner, "von der Wissenschaft nichts zu verstehen". Als ein einfühlsamer Arzt Dörner über Therapie und Krankheit aufklären wollte, blaffte der Psychiater ihn an: "Hören Sie auf! Ich habe mich in Ihre Hände begeben, weil ich Ihnen vertraue. Ihre Aufklärungsbemühungen schmälern mein Vertrauen nur."
Dörner gelang es "trotz einiger Mühe" nicht, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, weil er nie an Tests zur Früherkennung teilgenommen hatte. Mit weniger als 20 Prozent nimmt nur eine kleine Minderheit Früherkennung in Anspruch. Die Mehrheit sei Dörner zufolge nicht etwa ignorant, sondern hat wohl gute Gründe, die ihr aber nicht bewusst seien.
Damit folge sie der Skepsis an der Früherkennung, die neuerdings auch wissenschaftlich belegt sei. Vorsorge in Screeningprogrammen drohe Fürsorge zu ersetzen. Gesunde Bürger würden auf diese Weise zu therapie- und präventionsbedürftigen Patienten. Längst sei die Medizinindustrie dabei, das Schicksal auszurotten und in behandelbare Krankheiten zu überführen.