Medizin:Die Menschheit kühlt ab

Medizin: Die Genauigkeit von Fiebermessungen hängt auch davon ab, an welcher Stelle des Körpers die Temperatur überprüft wird.

Die Genauigkeit von Fiebermessungen hängt auch davon ab, an welcher Stelle des Körpers die Temperatur überprüft wird.

(Foto: mauritius images / Cultura)
  • Seit mehr als einem Jahrhundert stehen 37 Grad Körpertemperatur wie ein Symbol des Menschseins in den Lehrbüchern.
  • Doch ein Datenvergleich zeigt: Seit dem 19. Jahrhundert ist die Durchschnittstemperatur von Frauen um 0,32 Grad, die von Männern sogar um 0,59 Grad gesunken.
  • Grund dafür ist wahrscheinlich, dass die Menschen insgesamt gesünder geworden sind.

Von Werner Bartens

Die Zahl ist längst eine Metapher des Menschseins. Sie ist zum Inbegriff geworden für die normale körpereigene Wärme und für ein wohltemperiertes Miteinander. 37 Grad Celsius Körpertemperatur machen den Menschen aus - steigt die innere Hitze darüber hinaus, ist von "erhöhter Temperatur" die Rede. Klettert die Quecksilbersäule des Thermometers gar weiter nach oben, ab 37,8 Grad, beginnt das Fieber. Und diese kanonischen 37 Grad sollen nun obsolet sein, falsch gar, wie Ärzte aus Stanford behaupten? Seit sich 37 Grad als Standard im 19. Jahrhundert etabliert haben, sei die Durchschnittstemperatur von Frauen um 0,32 Grad, bei Männern sogar um 0,59 Grad gesunken, konstatieren die Wissenschaftler. Statt der traditionellen 37 Grad müsse wohl fortan die gesunde Norm von 36,5 Grad gelten.

Das Team um Infektionsexpertin Myroslava Protsiv hat die mittlere Körpertemperatur großer Kohorten von 1860 bis heute ausgewertet und kommt im Fachblatt eLife zu dem überraschenden Schluss, dass die Menschen von Dekade zu Dekade abkühlen. Mehr als 677 000 Messungen mit dem Thermometer gingen in die Studie ein. Bei Veteranen des amerikanischen Bürgerkrieges habe die Temperatur höher gelegen als in einer großen Studie aus den 1970er-Jahren. Seitdem sei sie weiter gesunken und habe in der jüngsten Analyse den bisherigen Tiefstwert erreicht.

Früher waren Infektionsleiden verbreitet, viele Menschen hatten chronisch erhöhte Temperatur

Anfangs vermuteten die Forscher, dass Messfehler und ungenau geeichte Thermometer der Grund für den zu hohen Wert vor 160 Jahren gewesen sein könnten. Der früheste Datensatz der Bürgerkriegsveteranen mit mehr als 80 000 Messungen umfasst jedoch den langen Zeitraum von 1862 bis ins 20. Jahrhundert hinein. Und hier zeigt sich, dass die Temperaturen der später Geborenen unter denen liegen, die früher auf die Welt kamen, also bereits in dieser Zeit die 37 Grad nicht mehr der Normalität entsprachen.

Die Infektionsmediziner aus Stanford sehen diverse Ursachen für ihre Beobachtung. Im 19. Jahrhundert waren Infektionsleiden wie Tuberkulose und Syphilis verbreitet. "In dieser Zeit litt die Mehrheit der Menschen an einer chronischen Entzündungsreaktion", sagte Julie Parsonnet, Leiterin des Teams in Stanford, der Fachzeitschrift Nature. "Sie wurden gerade mal 40 Jahre alt."

Viele Menschen verschleppten ihre Leiden, kausal konnte nichts dagegen getan werden, sodass sich der Organismus ständig im Abwehrkampf gegen Mikroben befand - und die leicht erhöhte Temperatur zur Normalität wurde. Mit den Fortschritten der Medizin und der Verbreitung der Antibiotika konnten viele Infektionskrankheiten eingedämmt werden. Die Menschen wurden gesünder, lebten länger, und ihre Körpertemperatur sank. Zudem sind die Menschen in den vergangenen 160 Jahren größer und wohlgenährter geworden. Die Zunahme von Bauch und Masse geht mit einem langsameren Stoffwechsel und demzufolge einer niedrigeren Körperkerntemperatur einher.

Mehr als 100 Jahre lange wurde der Wert nicht angetastet

Die Norm von 37 Grad etablierte sich von 1851 an, als der deutsche Arzt Carl Reinhold August Wunderlich in Leipzig Millionen von Messungen auswertete, die an 25 000 Probanden gemacht wurden. Die Spanne der normalen Körpertemperatur betrug damals zwischen 36,2 und 37,5 Grad, so dass 37 Grad als Mittelwert bald gesetzt waren. "Das wurde der Standard, der Wert wurde in Lehrbücher übernommen und war schlicht das, woran die Leute glaubten", sagt Julie Parsonnet. Mehr als 100 Jahre lange wurde der Wert nicht angetastet. Erst 1992 kamen US-Mediziner bei Messungen auf eine Durchschnittstemperatur von 36,8 Grad Celsius und forderten, die 37-Grad-Norm "abzuschaffen"; in Großbritannien erbrachte eine Untersuchung gar im Mittel kühle 36,6 Grad.

"Die Menschen haben sich seit 1850 womöglich verändert", sagt Antonius Schneider, Leiter der Allgemeinmedizin am Klinikum der TU München. "Früher haben sie sich mehr bewegt. Unser sitzendes Lebensverhalten führt zu einem niedrigeren Energieumsatz." Zudem sei es wichtig, wo und wann das Fieber gemessen wird: Werte unter der Achsel sind niedriger als oral gemessene, am genausten sind rektal gemessene Werte. Und morgens ist der Körper noch nicht so heiß wie abends.

Tatsächlich könnte es bedeutsam sein, wenn der Normwert bei 36,5 Grad liegt - dann würden künftig schon 37 Grad subfebrile also "erhöhte" Temperatur bedeuten, nicht erst 37,5 Grad. "In der hausärztlichen Behandlung ist aber letztlich das klinische Erscheinungsbild des Patienten von Bedeutung, sodass man die Therapie nicht allein von 0,2 Grad mehr oder weniger abhängig macht", sagt Schneider. "Gerade bei älteren Patienten laufen schwerere Infekte oft ohne hohes Fieber ab. Dennoch sollten die Daten Anlass sein, unser diagnostisches Vorgehen zu überdenken."

Aus historischer Sicht wäre die Abkehr von 37 Grad eine interessante Wendung. Bleibt dieser Wert der Medizin erhalten, auch wenn er sich als falsch erweisen sollte? "Traditionell wurde Fieber ja gerade nicht über die Körpertemperatur definiert, sondern das Narrativ des Patienten war ausschlaggebend für die Diagnose, also sein subjektives Befinden", sagt Thomas Schlich, Medizinhistoriker von der McGill University im kanadischen Montreal. "Bei Fieber wurde der Puls beurteilt, ein beschleunigter Puls gehörte zur Diagnose."

"Körper und Krankheit wurden instrumentell objektiviert und standardisiert."

Die Temperaturerfassung mit dem Thermometer setzte sich erst mit dem Siegeszug der experimentellen Physiologie Mitte des 19. Jahrhunderts durch. Daraus entwickelte sich auch die Darstellung der Messergebnisse in Form von Kurven. Was heute als "Fieberkurve" selbst zu einer Metapher für wechselvolle Verläufe geworden ist, etwa Schwankungen eines Aktienkurses, begann mit der Messung des Blutdrucks. Ein Kymograph ("Wellenschreiber") leitete den Blutdruck vom Messinstrument ab und zeichnete ihn auf. Die Kurvendarstellung wurde zur Konvention, die auf andere Messungen wie die Körpertemperatur ausgedehnt wurde.

Die Messung der Körpertemperatur zur Fieberdiagnostik ist Mitte des 19. Jahrhunderts im Krankenhaus eingeführt worden. Wunderlich war erst in Tübingen, dann in Leipzig tätig und leistete Pionierarbeit. Bald gehörte Fiebermessen zum klinischen Alltag und kurz darauf auch die Fieberkurve. Es dauerte nicht lange, und das Messen wurde zur häuslichen Routine bei Krankheit und brachte Regeln wie "drei Tage fieberfrei" hervor, die heute unsinnig erscheinen, im 19. Jahrhundert aber wohl gerechtfertigt waren, weil die Erholung von schweren Leiden Zeit brauchte, während ein grippaler Infekt heute oft nach einem fieberfreien Tag ausgeheilt ist. Galt Fieber anfangs als eigenständige Krankheit, wurde es bald zum Symptom anderer Grundkrankheiten wie etwa der Influenza.

Die Normierung der Körpertemperatur auf 37 Grad ist Teil der Verwissenschaftlichung der Medizin im 19. Jahrhundert. "Körper und Krankheit wurden instrumentell objektiviert und standardisiert", sagt Medizinhistoriker Schlich. "Es ist durchaus eine ironische Wendung, dass die 37 Grad dann zum Symbol für das subjektiv Menschliche geworden sind." Schließlich sei es ein artifizieller Vorgang, eine Standardkörpertemperatur festzulegen, die für Hitzköpfe wie kaltblütige Zeitgenossen gleichermaßen gelten soll. Kein Wunder, dass sie über die Zeit nicht stabil bleibt.

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