Klinische Studien:Die falsche Messlatte

Die Kriterien klinischer Studien sind oft mangelhaft. Wie Patienten sich fühlen, wird gar nicht oder nur unsystematisch erhoben. So könnte falschen politischen Entscheidungen der Weg geebnet werden.

Von Werner Bartens

Es ist hilfreich, Ärzte und Forscher gelegentlich daran zu erinnern, dass es in der Medizin auch um die Patienten geht. Gerade in wissenschaftlichen Studien geraten die Nöte und alltäglichen Sorgen der Kranken leicht aus dem Blick. So hat eine Analyse der Forschungsarbeiten zum Thema Diabetes vor einiger Zeit ergeben, dass innerhalb von zehn Jahren zwar mehr als 1000 Artikel von Arbeitsgruppen aus Deutschland veröffentlicht worden sind - aber nur weniger als 50 davon hatten konkrete Fragen der Versorgung, der Therapieverbesserung oder der Betreuung von Zuckerkranken im Alltag im Blick - beim großen Rest handelte es sich um Grundlagenforschung oder um "freie Assoziationen", wie die Autoren der Analyse bemerkten.

Dass sogar in klinischen Studien nicht immer die Perspektive der Kranken berücksichtigt wird, beklagen nun britische Ärzte um Melanie Calvert im Fachmagazin PLoS One (online). Gerade die subjektive Wahrnehmung der Patienten und ihre Einschätzung, ob die Therapie hilfreich war, komme zu kurz oder werde auf unpassende Weise erhoben. Nur in einem Drittel aller klinischen Studien werden demnach patientenrelevante Ergebnisse wie Schmerzen, Funktionseinbußen oder Lebensqualität der Kranken erfragt. Doch selbst wenn dies der Fall ist, sind die Kriterien in mehr als der Hälfte der Fälle unvollständig, oder es wird nicht ausreichend dargestellt, warum gerade die gewählten Parameter die Bedürfnisse der Patienten besonders gut abbilden.

Blutwerte und Röntgenbilder verraten nicht, wie sich die Kranken tatsächlich fühlen

"Wir haben in mehr als 20 000 Fachartikeln nachgeschaut und dabei 162 verschiedene Empfehlungen gefunden, wie patientenrelevante Kriterien untersucht werden sollten", so Calvert, die an der Universität Birmingham tätig ist. "Das ist irritierend für Ärzte wie für Wissenschaftler, eine Verschwendung von Forschungsgeld und führt zudem zu verzerrten Ergebnissen." Solche Studien seien nicht nur unnütz, sondern gefährdeten sogar die Patienten und bereiteten womöglich falschen Empfehlungen und gesundheitspolitischen Entscheidungen den Weg.

In der Fachliteratur gibt es etliche Beispiele für Studien, in denen der Blick auf die Patienten vernachlässigt wurde. So dauerten beispielsweise Untersuchungen, in denen die Spiegelung des Kniegelenks oder eine Versteifung der Wirbelsäule beschrieben wurden, oft nicht lange genug. Dass es den Patienten zwölf oder 24 Monate nach dem Eingriff wieder genauso bescheiden wie zuvor oder gar schlechter ging, wurde schlicht nicht erfasst und damit der Nutzen der Methode überbewertet.

Als noch fataler erwies sich eine große US-Studie mit Medikamenten gegen Herzrhythmusstörungen in den 1980er- und 1990er-Jahren: Zwar zeigte sich im EKG eine Stabilisierung der Herzströme. Dass zahlreiche Patienten an kardialen Nebenwirkungen der Arzneimittel starben, stellte sich hingegen erst viele Jahre später, nach mehreren Tausend unnötigen Todesfällen, heraus.

Dass Forscher einem Surrogatparameter zu viel Wert beimessen, kommt oft vor. Ein Laborwert, ein Messergebnis oder ein verengtes Blutgefäß sollen als Ersatzbeleg dafür dienen, wie es Patienten tatsächlich geht oder welche Risiken sie in sich tragen. Dabei ist ein erhöhtes Cholesterin nicht gleichbedeutend mit einem Infarkt und eine arterielle Verengung führt nicht zwangsläufig zum Gefäßverschluss. Wie sehr Röntgenbilder in die Irre führen können, erleben Patienten mit Rückenschmerzen täglich. Sie können weder schmerzfrei liegen noch stehen, aber der Arzt entdeckt keine pathologische Veränderung - und begnügt sich mit der Diagnose: Abnutzungserscheinungen.

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