Süddeutsche Zeitung

Medizinische Forschung:Ärzte und Ethiker befürchten Chaos bei klinischen Studien

Ab Ende Januar müssen alle Anträge für Arzneimittelstudien in der EU über ein elektronisches Portal gestellt werden. Doch die Plattform laufe katastrophal, beklagen Mediziner und Ethikkommissionen. Sie erwarten Nachteile für Patienten in ganz Europa.

Von Christina Berndt

Studien mit Patienten sind die Grundlage für medizinischen Fortschritt. Darüber herrscht in Klinik und Forschung weitgehend Einigkeit. Allerdings sind solche Studien nur dann wertvoll, wenn ein paar wichtige Voraussetzungen erfüllt sind: Sie müssen gut konzipiert sein, damit ihre Ergebnisse aussagekräftig sind. Sie müssen im Vorfeld von einer Ethikkommission begutachtet werden, um möglichen Schaden von Probandinnen und Probanden abzuwenden. Und ihre Ergebnisse müssen nach Studienende veröffentlicht werden, egal, wie die Studien ausgehen, damit alle von dem neuen Wissen profitieren können.

Um all dies zu gewährleisten, arbeiten Arzneimittelbehörden weltweit seit einigen Jahren an mehr Transparenz. In der EU gilt seit dem 31. Januar dieses Jahres eine neue Verordnung über Prüfungen von Arzneimitteln am Menschen - und ein zentraler Punkt ist dabei die verpflichtende Eintragung aller Studien und Ergebnisse in ein elektronisches Portal namens CTIS. Das "Clinical Trials Information System" soll gleich drei Dinge erreichen: Arzneimittelbehörden, Antragsteller und Ethikkommissionen können hier ohne viel Bürokratie an den Unterlagen arbeiten, alles befindet sich auf einer Plattform, ein einziger Antrag genügt für die gesamte EU - und noch dazu erhält die Öffentlichkeit zeitnah Einblick in die Pläne und Resultate. Vom 31. Januar 2023 an müssen sämtliche Anträge für klinische Studien über CTIS laufen, so will es das Gesetz. Nur hier können dann noch Genehmigungen erteilt werden.

Nach zehn Monaten gebe es nicht weniger, sondern sogar noch mehr Mängel

Das Problem: Das gibt die Plattform derzeit offenbar gar nicht her. Das System funktioniere nicht richtig, dadurch werde die sorgfältige Überprüfung von Forschungsanträgen durch Ethikkommissionen geradezu verhindert, beklagt der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland (AKEK) in einem einstimmig verabschiedeten Brandbrief, den die Bundesärztekammer (BÄK), die Deutsche Hochschulmedizin, Industrieverbände und der Verband der Universitätsklinika mitunterzeichnet haben. Selbst nach zehn Monaten Praxis leide das Portal an gravierenden Mängeln, die in den vergangenen Monaten nicht beseitigt worden seien, sondern sogar zugenommen hätten, heißt es in dem Brief. Damit sei die Antragstellung für klinische Prüfungen ebenso wie deren Bearbeitung durch die Ethikkommissionen "massiv beeinträchtigt und nicht zu bewältigen".

Dabei würden derzeit nur gut 110 der rund 1000 deutschen Ethik-Anträge, die es pro Jahr gebe, über das Portal gestellt, sagt Georg Schmidt, Vorsitzender der Ethikkommission der TU München und des AKEK. "Man mag sich gar nicht ausmalen, was passiert, wenn alle Anträge über das Portal laufen sollen, dann wird es zur Katastrophe kommen."

Schon heute stürze das Portal regelmäßig ab, sagt Schmidt. Mitunter ließen sich Dokumente gar nicht hochladen. Und die bis zu 500 Papiere, die einem Antrag beigefügt werden müssen, könne man in dem System lediglich auf zwei Unterordner aufteilen, sodass ein Überblick kaum möglich sei. Manche Kommissionen aus anderen EU-Ländern hätten auf dem Portal schon Anträge pauschal abgelehnt, quasi als "Notbremse", sagt Schmidt, weil sie nicht in der Lage gewesen seien, Änderungen zum Schutz der Probandinnen und Probanden zu verlangen. "Und bevor dann ein Antrag einfach durchgeht, den man aufgrund der Mängel der Plattform nicht adäquat prüfen kann, muss man ihn eben ablehnen." Es sei eine absurde Situation, die auch Nachteile und Risiken für Patientinnen und Patienten mit sich bringe.

Dem pflichtet auch BÄK-Präsident Klaus Reinhardt bei: Die BÄK habe über viele Jahre große Bemühungen angestellt, um zu einem möglichst reibungslosen Anwendungsbeginn des Studienportals beizutragen. "Die aktuellen technischen Probleme mit CTIS haben jedoch das Potential, den Forschungsstandort Europa erheblich zu schädigen." Die Unterzeichner des Brandbriefs fürchten, dass die verpflichtende Bearbeitung von Anträgen über ein Portal "mit massiven Funktionsproblemen" zur Gefahr für die Arzneimittelforschung in Europa werde. Wenn Pharmafirmen und Universitäten mit ihren Studien ins Ausland abwanderten, hätte dies aber negative Folgen für den frühen Zugang von Patientinnen und Patienten in Deutschland und der EU zu neuen Therapien.

Die EMA verspricht, die Probleme zu lösen

Dass klinische Studien in Europa wichtig für die hier lebenden Menschen sind, sieht auch Karl Broich so, der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). "Studienergebnisse beispielsweise aus Asien sind nicht immer ohne Weiteres auf Europa übertragbar", betonte er erst kürzlich in einem Blogbeitrag des BfArM zur Umgestaltung der klinischen Forschung in Deutschland. "Daher muss es in unser aller Interesse sein, die EU als Studienstandort zu stärken."

Broich sieht allerdings in CTIS einen Weg hin zu dieser Standortstärkung - eben wegen des geplanten schnellen Zugriffs aller Akteurinnen und Akteure. Der BfArM-Präsident erhofft sich einen Abbau der Bürokratie und einen Schub für mehr Transparenz, weil Ergebnisse schneller zugänglich sind. Ob das System wirklich so schlecht läuft und bis wann mit einer Überarbeitung zu rechnen sei, will das BfArM hingegen nicht beantworten. Es verweist auf die Zuständigkeit der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA. Das Bundesgesundheitsministerium hingegen bestätigt, dass "bei der Anwendung des neuen Systems derzeit noch technische Herausforderungen auftreten". Man setze sich bei der Europäischen Kommission und der EMA dafür ein, dass schnellstmöglich Lösungen gefunden werden. Die EMA betont auf Anfrage, sie erkenne an, "dass manche Nutzer Probleme mit dem System" haben. Es werde intensiv daran gearbeitet, dass das System zum Zeitpunkt des verpflichtenden Nutzung sicher laufe. Zu diesem Zweck habe man auch in neue Ressourcen investiert.

Die Unterzeichner des Protestbriefes erkennen die Chancen durchaus an, die mit dem CTIS-Portal verbunden sind: Die BÄK habe die Umstellung auf das Portal über viele Jahre unterstützt, sagt Klaus Reinhardt, viele Hoffnungen seien mit dem europaweit koordinierten Verfahren verbunden. Auch der AKEK-Vorsitzende Schmidt betont, dass die Digitalisierung im Prinzip sinnvoll sei. Die Unterzeichner des Briefes fordern daher, dass auch über den 31. Januar 2023 hinaus noch Anträge außerhalb von CTIS gestellt und bearbeitet werden dürfen - und zwar, ohne dass gleich eine neue Frist verkündet wird, betont Schmidt: "Das sollte garantiert werden, bis die Funktionsfähigkeit des EU-Portals tatsächlich hergestellt ist."

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