Süddeutsche Zeitung

Medizin:Der Rotznasen-Eklat

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In manchen Bundesländern sollen Kinder selbst mit leichten Schnupfen-Symptomen nicht mehr in die Kita gehen. Ärzte wie Eltern sind alarmiert.

Kommentar von Felix Hütten

Die Corona-Pandemie hat Menschen unterschiedlich hart getroffen, das kann man schon heute sagen. Während manche gemütlich von zu Hause aus im Home-Office die Ausgangsbeschränkungen aussitzen konnten, mussten andere trotzdem ran und raus: Müllleute, Lokführerinnen, Pflegekräfte. Doch auch in vielen heimischen Wohnzimmern wurde nicht nur mit Laptop auf dem Schoß, sondern auch mit Knete und Bauklötzen unterm Tisch gearbeitet - manchmal, ja, viele Eltern kennen das, auch gleichzeitig.

Die Freude also war in vielen Familien riesig, als Kitas und Kindergärten wieder öffneten. Doch diese Freude währte nicht lange. Diverse Landesregierungen, darunter etwa Bayern und NRW haben nun verkündet, dass Kinder selbst mit leichten Erkältungssymptomen den Einrichtungen fernbleiben sollen: Rotznase, nein danke, lautet die Devise.

Die kalten Herbsttage werden kommen - und die Kinderarztpraxen explodieren

Bayern geht, wen wundert's, sogar einen Schritt weiter und schreibt ganz keck, dass auch ein ärztliches Attest, das ein Kind als gesund ausweist, von den Erzieherinnen nicht akzeptiert werden müsse. Die Stimmung unter Kinderärzten ist derzeit auf Bodennähe angekommen.

Natürlich ist es sinnvoll, dass kranke, fiebernde Kinder nicht mit anderen Kindern spielen. Nur: Kinder haben Rotznasen, manche häufiger, andere seltener, keines nie. Eine Rotznase aber ist kein Beleg für eine Corona-Infektion. Insbesondere bei Kindern zeigt sich diese in kreativer Ausprägung: Von gar nichts los über Durchfall und Erbrechen bis Fieber ist alles dabei.

Per se alle Kinder mit Schnupfen aus der Kita auszuschließen, ist ein sehr ungenaues Verfahren, das die Ungerechtigkeit der Corona-Pandemie nur noch verstärkt. Seit die Einrichtungen wieder geöffnet haben, holen viele Kinder jene eigentlich harmlosen Kita-Infekte nach, die sie sich über den Frühling mangels Kontakt zu Spielkameraden gespart hatten. In Kinderarztpraxen stehen die Telefone nun nicht mehr still, Eltern fragen massenweise nach Covid-Tests und, so komisch es klingt, nach "Gesundschreibungen". Ärzte sollen Eltern wie Kitas bestätigen, dass der Nachwuchs betreuungstauglich ist. Der Berufsverband der Kinderärzte BVKJ hält das "medizinisch als auch wirtschaftlich gesehen für Unsinn". Denn der Herbst wird kommen, die Nasen werden laufen, und die Praxen explodieren.

Und die Politik? Die schreibt, wie etwa die Bayerische Staatsregierung, ganz freundlich, dass man sich bewusst sei, "dass die Zeit der Betreuungsverbote die Eltern vor größte Herausforderungen gestellt hat" - Vergangenheitsform: Als komme die Rotznasenwelle nicht erst. Von Hilfen für Eltern, die ohne Kita in Schwierigkeiten kommen, ist nichts zu lesen. Ebenso wenig von einer dringend notwendigen Corona-Test-Strategie für die Einrichtungen, von Forschungsbemühungen, um kinderfreundliche Sars-2-Tests zu etablieren, von der Frage, wie man mit öffentlichen Spielplätzen umgeht, auf denen all die Rotznasenkinder ebenso umherwuseln, oder Ähnliches. Immerhin: Man danke den Eltern für ihre Mithilfe.

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