Es ist eine der größten, logistisch schwierigsten und ambitioniertesten Aktionen, die es je im Gesundheitswesen gab: Innerhalb von nur zwei Wochen müssen in 155 Ländern der Welt die bisher gängigen Lebendimpfstoffe gegen Kinderlähmung eingesammelt und durch neue ersetzt werden. Tausende Helfer kontrollieren, dass dabei nicht eine einzige Dosis ihrem Schicksal entgeht: durch Dampf abgetötet, verbrannt oder in Sonderdeponien vergraben zu werden. Was wie ein Feldzug von Impfgegnern aussieht, ist tatsächlich Teil der weltweiten Kampagne zur Ausrottung der Kinderlähmung (Poliomyelitis). Eine vergleichbare Aktion gab es noch nie. Wie sie ausgeht, kann niemand mit Sicherheit sagen.
Dass dieser Schritt notwendig werden würde, war schnell klar, nachdem die globale Polio-Initiative ihren ersten großen Erfolg gefeiert hatte: 1999 war der erste von drei Virustypen ausgerottet. Dieser sogenannte Typ 2 würde - so hoffte man damals - nie wieder einen Menschen krankmachen.
Sehr selten können aus den Lebendimpfstoffen wieder gefährliche Erreger mutieren
Doch so einfach war es nicht. In jeder Dosis des Polio-Impfstoffs, die einem Kind auf die Zunge getropft wurde, schwamm noch immer der abgeschwächte, aber lebensfähige Erreger vom Typ 2. Nur bleiben diese Viren aus dem Impffläschchen nicht immer schwach. Aus dem Körper des immunisierten Kindes ausgeschieden, können sie sich in seltenen Fällen genetisch verändern, wieder infektiös werden und neue Krankheitsausbrüche unter Ungeimpften auslösen.
725 Menschen sind auf diesem Wege in den vergangenen zehn Jahren an der Kinderlähmung erkrankt. Das sind verschwindend wenige angesichts der etwa fünf Millionen Fälle, welche die Impfungen im gleichen Zeitraum verhindert haben. Doch es sind 725 zu viele, wenn das Ziel Null heißt. Es wurde klar, dass der Sieg über die Krankheit nie gelingt, wenn die Impfungen selbst den Erreger immer wieder in die Umwelt hineintragen, aus der er so mühsam getilgt wurde.
Deshalb gibt es jetzt den radikalen Schnitt: Von Mai an werden nur noch Lebendimpfstoffe gegen die Polio-Typen 1 und 3 verabreicht. Unzählige Kinder werden also künftig ohne Schutz gegen das im Prinzip ausgerottete Typ-2-Virus aufwachsen. Um das Problem der gelegentlich aus dem Impfstoff stammenden, wieder erstarkten Viren abzufedern, sollten alle Kinder vor der Impfstoff-Rücknahme vorsorglich einen Totimpfstoff gegen Typ-2-Viren gespritzt bekommen. Von diesen inaktivierten Erregern geht keine Gefahr eines neuen Ausbruchs mehr aus. Doch den rapide gestiegenen Bedarf an den Totimpfstoffen konnten die Hersteller nicht rechtzeitig decken. Etwa 30 Länder konnten diese Sicherheitsmaßnahme bis heute nicht ergreifen. Experten befürchten, dass einige Staaten auch 2017 noch nicht genügend Vorräte von diesem Vakzin haben werden.
Dabei ist es recht wahrscheinlich, dass sich irgendwo auf der Welt noch mutierte, aus Impfstoff stammende Viren vom Typ 2 verstecken. In den vergangenen sechs Monaten verursachten derartige Erreger je einen Ausbruch in Myanmar und Guinea. Fast zeitgleich machten Wissenschaftler in England eine erstaunliche Entdeckung. Sie fanden wahrscheinlich pathogene Polio-Impfviren in der Stuhlprobe eines Mannes, der 28 Jahre zuvor seine letzte Impfdosis erhalten hatte. Dass die Viren nach so langer Zeit ausgeschieden werden können, hatte man bis dahin nicht für möglich gehalten. In Abwässern in der Slowakei, Finnland, Estland und Israel haben Wissenschaftler ebenfalls Impfviren gefunden.
Aufgrund all dieser Entwicklungen rechnet die WHO mit ein bis zwei neuen Polio-Ausbrüchen durch Typ 2 in den kommenden zwölf Monaten. "In Deutschland ist die Gefahr allerdings sehr gering. Hier wird schon seit 1998 kein Lebendimpfstoff mehr verabreicht, sondern nur noch der Totimpfstoff verwendet", sagt Sabine Diedrich vom Nationalen Referenzzentrum für Poliomyelitis am Robert Koch-Institut. Zudem sind in Deutschland die allermeisten Kinder gegen Polio immunisiert. "Das Risiko größerer Ausbrüche besteht vor allem in Regionen mit geringen Impfraten", sagt die Medizinerin.
Die WHO jedenfalls ist optimistisch
Experten vermuten, dass sie einen Ausbruch durch Nachimpfen schnell stoppen könnten. Doch dafür wären ausgerechnet jene Typ-2-Lebendimpfstoffe am besten geeignet, die gerade aus dem Verkehr gezogen werden. Tatsächlich wurden für diesen Notfall Reserven angelegt. Doch würden sie verwendet, bestünde erneut das Risiko, dass Impfviren in Umlauf geraten. "Damit könnte sich der Sieg über die Krankheit weiter verzögern", sagt Diedrich.
Es wäre beileibe nicht der erste Rückschlag, den die WHO und ihre privaten Partner im Kampf gegen die Krankheit hinnehmen müssten. Der Plan zur Ausrottung der Polio wurde bereits 1988 gefasst; das Ziel sollte ursprünglich im Jahr 2000 erreicht sein. Doch Impfskepsis, Kriege und Krisen behinderten die Arbeit.
Mittlerweile zirkulieren natürliche Polio-Viren nur noch in Pakistan und Afghanistan. 74 Neuerkrankungen wurden im vergangenen Jahr in beiden Staaten zusammen gezählt. Gelingt es, auch diese letzten Infektionen zu stoppen, können in den kommenden Jahren nach und nach alle weiteren Impfstoffe und Virenbestände vernichtet werden. Die WHO jedenfalls ist optimistisch. So nahe an der Ausrottung der Krankheit sei die Welt noch nie gewesen.