Im kriegsgeplagten Gazastreifen ist erstmals seit 25 Jahren ein Fall von Kinderlähmung bestätigt worden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will nun eine Feuerpause erreichen, um durch eine eilige Impfaktion zu verhindern, dass sich die Krankheit weiter ausbreitet. Die auch Poliomyelitis genannte Erkrankung kann zu Lähmungen von Armen, Beinen, der Atemmuskulatur und auch zum Tod führen.
Das Auftauchen des selten gewordenen Leidens in der Krisenregion wurde lange befürchtet. Schon im Juli waren in Abwasserproben aus den Städten Chan Yunis und Deir al-Balah Polio-Erreger entdeckt worden. Kurz darauf fielen Medizinern Lähmungen bei drei Kindern auf. Bei dem ersten von ihnen hat die Analyse von Stuhlproben nun Gewissheit gebracht: Ein zehn Monate altes Baby ist mit dem Poliovirus infiziert. „Das Kind, das eine Lähmung im unteren linken Bein entwickelte, ist aktuell stabil“, schrieb WHO-Direktor Tedros auf X. Er zeigte sich dennoch „zutiefst besorgt“, da das Risiko einer weiteren Polio-Ausbreitung in der Region hoch sei.
Wie viele weitere Kinder bereits mit dem Virus in Kontakt kamen, lässt sich nicht sagen. Lähmungen treten nur bei etwa jedem hundertsten infizierten Kind auf. Bei den anderen verläuft die Krankheit ohne auffällige Symptome, die Infektionen können so unentdeckt weitergegeben werden – ganz besonders, wenn das Chaos des Krieges eine systematische Suche nach Erkrankten und deren Kontakten verhindert.
Die Weltgesundheitsorganisation und einige Partner hielten allein schon die Funde der Polioviren im Krisengebiet für so bedrohlich, dass sie bereits seit Wochen eine siebentägige Impfaktion im Gazastreifen planen. Sie appellierten an die Kriegsparteien, eine Feuerpause einzulegen, während derer 640 000 unter Zehnjährige die Schluckimpfung bekommen sollen. Mehr als 700 Impfteams stünden bereit, hieß es schon vor zehn Tagen von Seiten der WHO. Die Aktion sei für Ende August bis Anfang September geplant. Ein konkretes Datum konnte WHO-Mitarbeiterin Bisma Akbar allerdings angesichts der „sehr komplexen Situation“ auf Anfrage noch nicht nennen.
„Die Reaktion muss innerhalb von Stunden, nicht Wochen erfolgen.“
Hilfsorganisationen mahnen unterdessen zur Eile. „Jetzt, da Polio bestätigt wurde, muss die Reaktion innerhalb von Stunden und nicht Wochen erfolgen“, sagte Jeremy Stoner, der Regionaldirektor von Save the Children für den Nahen Osten, in einer Pressemitteilung. Wenn nicht sofort gehandelt werde, würden Hunderte Kinder in der Region dem Risiko von Lähmungen ausgesetzt.
Mindestens 95 Prozent der Kinder müssten nach WHO-Angaben immunisiert sein, um die Ausbreitung der Polio zu verhindern. Bis Anfang 2024 sei die Impfquote auf unter 90 Prozent gesunken. Erschwerend kommen die massiven Zerstörungen der Wasser- und Abwassersysteme im Krisengebiet hinzu. Das Poliovirus wird mit dem Stuhl ausgeschieden und über Schmierinfektionen weiterverbreitet, mangelnde Hygiene begünstigt diese Entwicklung.
Bei der Lähmung, die nun das Baby getroffen hat, handelt es sich um die sogenannte Impfpolio. Ihr Auslöser sind nicht die in der Natur vorkommenden Viren, sondern abgeschwächte Erreger aus den Lebendimpfstoffen. In sehr seltenen Fällen können diese Erreger an Ungeimpfte weitergegeben werden, sich verändern und jene Mutation, die sie abschwächte, wieder verlieren. Damit erlangen diese Viren die Fähigkeit zurück, die gefürchteten Lähmungen hervorzurufen.
Die Kinderlähmung sollte eigentlich bereits im Jahr 2000 ausgerottet sein. Mittlerweile kommen Infektionen mit dem natürlichen Erreger nur noch in Afghanistan und Pakistan vor. 2023 wurden in den beiden Ländern je sechs Fälle gezählt. Mehr als 500 Fälle von Impfpolio wurden registriert. Sie sind letztlich nicht zu vermeiden, solange noch Lebendimpfstoffe verwendet werden. Dennoch: Ihr Zirkulieren in einem Gebiet, dessen Kinder unter Hunger, Auszehrung, Stress, weiteren Erkrankungen und einer desaströsen Gesundheitsversorgung leiden, ist ein ganz besonderes Problem. Somit drohe im Gazastreifen „eine Gesundheitskatastrophe, die sich ausbreiten und Kinder in der gesamten Region und darüber hinaus gefährden kann“, sagte Nahed Abu Iyada von der Hilfsorganisation Care in einer Stellungnahme.