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Kinderkrankheiten:Wie sinnvoll ist die Impfung gegen Windpocken?

Lesezeit: 4 Min.

Die Windpockenimpfung soll Kinder vor einer meist harmlosen Infektion schützen. Doch womöglich erhöht sie bei nicht-geimpften Erwachsenen das Risiko für eine ernstere Erkrankung: die Gürtelrose.

Von Irene Habich

Sie war von Beginn an umstritten: die Windpockenimpfung für Kinder, von der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut seit 2004 empfohlen. Einige Mediziner sahen schon damals keinen Grund dafür, Kinder standardmäßig gegen juckenden Ausschlag zu impfen, der zwar sehr unangenehm ist und mitunter Narben hinterlässt, aber in aller Regel harmlos verläuft.

Jetzt häufen sich die Belege für eine weitere Gefahr: dass nämlich die Impfung das Auftreten einer sogenannten Gürtelrose bei nicht geimpften Erwachsenen fördert, einer schmerzhaften und weitaus ernsteren Krankheit. Dass diese Gefahr real ist, darauf deuten erste Zahlen nun hin. Die Stiko erwägt deshalb, auch noch die Impfung gegen Gürtelrose zu empfehlen.

Von den zweijährigen Kindern in Deutschland sind inzwischen etwa zwei Drittel gegen Windpocken geimpft. Dass diese flächendeckende Immunisierung der Kinder indirekt für ältere Menschen riskant ist, liegt an den besonderen Eigenschaften des Windpocken-Erregers, dem Varizella-Zoster-Virus.

Bei einer ersten Infektion löst das Virus die Windpocken aus. Ist die Krankheit einmal überstanden, hat das Immunsystem einen Schutz vor den Windpocken aufgebaut. Die Viren verbleiben aber im Körper und nisten sich in Nervenknoten nahe der Wirbelsäule ein. Wenn die körpereigene Abwehr - oft im Alter oder durch Krankheit - geschwächt ist, kann der Erreger wieder zum Leben erwachen. Er ruft dann keine Windpocken mehr hervor, sondern Herpes Zoster, eine schmerzhafte Entzündung, die von den Nervenknoten ausgehend auf die Haut übergreift und einen gürtelartigen Ausschlag hervorruft. Die Krankheit wird deshalb auch Gürtelrose genannt.

Allerdings gab es bislang einen gewissen natürlichen Schutz gegen die Gürtelrose. Erwachsene nämlich, die als Kind die Windpocken durchgemacht haben und das Virus deshalb in sich tragen, profitieren offenbar vom erneuten Kontakt mit an Windpocken erkrankten Kindern. Die körpereigene Abwehr wird dadurch beständig angeregt - und kann so besser verhindern, dass der im Körper schlummernde Erreger wieder aktiv wird. Und dieser Kontakt war früher gar nicht so selten, da sich vor Einführung der Windpocken-Impfung etwa 90 Prozent der Kinder schon im Grundschulalter ansteckten.

Wenn aber infolge der Impfung keine echten Windpockenviren mehr kursieren, entfällt diese Anregung des Immunsystems. Es besteht also die Gefahr, dass in den kommenden Jahrzehnten deutlich mehr Menschen im Alter an Gürtelrose erkranken, vor allem diejenigen, die als Kind noch die echten Windpocken hatten. Erst wenn die geimpften Generationen ins Rentenalter kommen, könnte die Zahl wieder sinken. Vorausgesetzt, die Windpockenimpfung senkt langfristig das Risiko für Herpes Zoster. Zumindest zeitnah zur Impfung scheint das der Fall zu sein.

Im Fachmagazin Vaccine erschien kürzlich eine Bewertung zu den Folgen der Windpockenimpfung in den USA, die dort seit 1995 empfohlen wird. Die Analyse aller bisher verfügbaren Daten kommt zu dem Schluss, dass dort tatsächlich mehr Menschen an Herpes-Zoster erkranken. Hauptautor Gary Goldman hatte im Auftrag der Gesundheitsbehörden eine Region mit 300.000 Einwohnern untersucht.

Dort erhöhte sich etwa 2001 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Gürtelrose-Erkrankungen in der Altersgruppe von 20 bis 59 Jahren um rund 29 Prozent - zu einem Zeitpunkt, als erstmals eine hohe Windpocken-Durchimpfungsrate erreicht worden war. Die US-Gesundheitsbehörden halten den Zusammenhang zwar nicht für erwiesen. Vielleicht sei gerade wegen der erhöhten Aufmerksamkeit der Anstieg beobachtet worden. Dennoch raten sie seit 2006 älteren Menschen, sich gegen Gürtelrose zu impfen.

Australische Krankenkassen zahlen seit 2005 die Windpockenimpfung für Kinder. Die Verschreibungen von Gürtelrose-Medikamenten und die Zahl der Klinikbesuche wegen Gürtelrose erhöhte sich danach jährlich in allen Altersgruppen über 20 Jahre um zwei bis sechs Prozent, berichtete das Fachmagazin Epidemiology and Infection 2011. Die Autoren empfehlen dringend weitere Untersuchungen, um die tatsächlichen Folgen der Windpocken-Impfung zu prüfen. Seit 2009 wird in Australien für Senioren die Impfung gegen Herpes Zoster empfohlen.

Nach Angaben der Epidemiologin Anette Siedler vom RKI gibt es in Deutschland bisher keinen Beleg für erhöhte Herpes-Zoster-Zahlen. Für den Fall einer Zunahme werden aber schon Lösungsmodelle durchgespielt. Denkbar sei es, die Empfehlung der Windpockenimpfung zurückzunehmen oder einzuschränken. Oder einfach zusätzlich die Impfung gegen Gürtelrose zu empfehlen.

"Theoretisch könnte das Risiko für Zoster steigen", schrieb die Stiko schon 2004. Warum hielt sie es trotzdem für nötig, die Windpocken-Impfung zu empfehlen? Sie argumentierte mit schweren Krankheitsverläufen. Tatsächlich können Windpocken auch Entzündungen auslösen, die in seltenen Fällen auf die Hirnhäute, die Lunge oder andere Organe übergreifen. Erwachsene können unter schwereren Verläufen leiden, die im Einzelfall tödlich enden. Und Schwangere können ihr Baby verlieren, wenn sie sich mit Windpocken anstecken. Risikogruppen wurde die Impfung deshalb ohnehin schon empfohlen: Erwachsenen etwa, die als Kind noch keine Windpocken durchgemacht hatten, oder Frauen mit Kinderwunsch.

In Deutschland wurden laut Statistischem Bundesamt zum Zeitpunkt der Impfempfehlung pro Jahr zwei bis drei von 100.000 Personen mit Windpocken im Krankenhaus behandelt, in Amerika drei. In ihrer Begründung der Impfempfehlung zitierte die Stiko 2004 überraschend hohe Zahlen: In bis zu 5,7 Prozent der Windpockeninfektionen komme es zu Komplikationen. Die Zahl stammte allerdings aus einer methodisch fragwürdigen Telefonumfrage - finanziert vom Impfstoffhersteller Glaxo Smith Kline.

Tatsächlich könnte die Impfung schwere Verläufe verhindern, wenn sie dauerhaft schützt oder ständig erneuert wird. Falls der Schutz aber irgendwann nachlässt, erkranken zwar weniger Menschen im Kindesalter, mehr von ihnen aber als Erwachsene - also zu einem besonders gefährlichen Zeitpunkt. Die Empfehlung wurde 2009 bereits von einer auf zwei Impfdosen erweitert. Wie lange danach ein Schutz besteht, kann laut Stiko "noch nicht ausreichend beantwortet werden".

Für die gesetzlichen Krankenkassen erhöhen Nachimpfungen die Kosten, bei etwa 115 Euro liegt der Preis für zwei Dosen. Und sie steigern die Gefahr, dass Nebenwirkungen auftreten: Die verfügbaren Präparate Varilrix von Glaxo Smith Kline und Varivax von Sanofi Pasteur MSD sind Lebendimpfstoffe. Sie enthalten eine abgeschwächte Variante des Virus und können schwere Komplikationen auslösen. Nach der Impfung mit Varivax wurden unter anderem Lungenentzündungen, Entzündungen des Gehirns und Herpes Zoster beobachtet. Das ist allerdings erheblich seltener der Fall als bei einer echten Infektion.

Brigitte Keller-Stanislawski ist am Paul-Ehrlich-Institut zuständig für die Überwachung der Arzneimittelsicherheit. "In der Verträglichkeit der Impfung liegt nicht das Problem", sagt sie, "eher in der Frage nach ihrem langfristigen Nutzen." Eine Frage, die sich umso dringender stellt, wenn aus einer empfohlenen Impfung erst zwei und bald schon drei geworden sein könnten.

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Quelle:
SZ vom 02.07.2013
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