Kinder- und Jugendpsychiatrie:Wenn Vorsorge zu eilfertig ist
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Von Berit Uhlmann
Schon Kleinkinder haben Depressionen, immer mehr ADHS-Diagnosen werden gestellt, neue Süchte suchen Teenager heim: Man kann heute leicht den Eindruck bekommen, dass es um die Kinderseelen in Deutschland schlecht steht. Auch wenn in den meisten Fällen nicht die Zahl der Erkrankten zunimmt, sondern lediglich die Aufmerksamkeit für die Leiden steigt, befasst sich derzeit auch die Politik mit dem Thema.
Ein neues Präventionsgesetz soll auch seelische Erkrankungen von vornherein verhindern. Immer eher und immer mehr bedeute nicht zwangsläufig auch immer besser, gaben Kinder- und Jugendpsychiater zu bedenken, als sie sich in der vergangenen Woche in München trafen. So begrüßenswert das Engagement für die Vorsorge sei.
"Es gibt bislang eine enorme Diskrepanz zwischen den Gesundheitskampagnen der Politik und der wissenschaftlichen Erkenntnis", sagt Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU München. Heute werden vor allem jede Menge Faltblätter, Plakate und Broschüren in Schulen abgeliefert. Es mag politisch korrekt wirken, jeden Heranwachsenden gleichermaßen mit Informationen zu versorgen. Doch man kann Jugendliche verlieren oder überfordern, wenn man ihnen permanent Gefahren vor Augen hält, warnt der Psychiater. Manche gut gemeinte Aktion kann sogar kontraproduktiv sein.
Es gibt heute schon Programme, bei denen jeder Halbwüchsigen einüben soll, wie er eine eventuell drohende Depression verhindern oder mildern kann. Ganze Schulklassen erfahren, wie sich negative Emotionen besser verarbeiten oder ungünstige Denkmuster durchbrechen lassen.
Als britische Forscher 2012 eines dieser Schul-Programme näher untersuchten, konnten sie keine positive Wirkung entdecken. Die Stimmung der Kids war nach dem Präventionskurs nicht besser als bei den Schülern, die lediglich im Sozialkunde-Unterricht gesessen hatten. Im Gegenteil: Unter denen, die sich wochenlang mit der Depression befasst hatten, lag die Rate an depressiven Symptomen am Ende höher. Die gefährdeten Kinder spürten nun offenbar echte oder vermeintliche Anzeichen für die Schwermut, sie sorgten sich und reagierten mit Selbstwertproblemen.
Abschreckungskampagnen wirken nicht immer
Auch viele Abschreckungskampagnen wirken kontraproduktiv. "In den USA wurden Schüler in Gefängnisse geführt", nennt der Berliner Präventionsforscher Herbert Scheithauer ein Beispiel. Das Risiko, kriminell zu werden, war in diesen Gruppen höher als in den Klassen ohne Knastbesuch. Einige der Kids im besten rebellischen Alter waren wohl von der Vorführung des Gangster-Lifestyles eher fasziniert als abgeschreckt. Drogenkampagnen, die mit sehr drastischen Bildern arbeiten, können ihre Glaubwürdigkeit verlieren, sobald Jugendliche einem Abhängigen begegnen, der dieser Darstellung nicht entspricht. Es hat eben nicht jeder Crystal-Meth-Konsument fürchterlich verrottete Zähne und nicht alle Alkoholabhängige liegen besinnungslos im Straßengraben.
"Prävention ist wichtig, aber wir müssen die Effektivität evaluieren", sagt Jörg Fegert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bisherige Forschungen sprechen dafür, dass es wenig sinnvoll ist, alle Heranwachsenden vor allem Unbill zu warnen. Fegert spricht sich für mehr selektive Prävention aus. Er empfiehlt, die Vorsorge vor allem an Kinder aus Risikofamilien oder -Wohngebieten zu richten, oder an Jugendliche, die bereits auffällig geworden sind. Dabei scheinen individuelle Gespräche in vielen Fällen hilfreicher zu sein als Gruppenaktionen. Vor allem braucht es mitunter ein längeres Engagement. So hatten einige Programme zur Vorbeugung der Depression zwar moderate Effekte gezeigt, doch spätestens nach zwei Jahren war vom Schutz nichts mehr vorhanden. Auch bei Programmen zur Angst-Vorbeugung schrumpfte die Wirkung nach einem Jahr deutlich.
Wie sinnvoll sind Reihenuntersuchungen der Psyche?
Zweifelhaft ist auch, ob unspezifische Massenscreenings einen Sinn haben. Einige Bundesländer erwägen, bei den Schuleingangsuntersuchungen auch psychische Auffälligkeiten zu erfragen, sagt Johannes Hebebrand, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Duisburg-Essen. Allerdings liefern viele der gängigen Tests lediglich Anhaltspunkte auf mögliche Probleme. Und längst nicht jedes Problem ist behandlungsbedürftig.
Doch wer einmal das Etikett "psychisch auffällig" bekommen hat, läuft Gefahr, verunsichert und stigmatisiert zu werden. Solange die Kapazitäten nicht da sind, alle Kinder mit Hinweisen auf Auffälligkeiten auch gründlich zu untersuchen und gegebenenfalls zu behandeln, hält Hebebrand solche pauschalen Screenings für unethisch. Dass die derzeitigen Kapazitäten reichen, ist unwahrscheinlich. Selbst Kinder mit akuten Erkrankungen müssen in Teilen Deutschlands wochenlang auf einen Platz beim Facharzt oder Psychologen warten.