Medizin:Ärzte warnen vor Totalüberwachung im Kinderbett

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Herzschlag, Puls und Sauerstoffsättigung: Neue Geräte sollen die volle Kontrolle des Säuglings ermöglichen. Es ist ein Geschäft mit den Ängsten der Eltern.

Von Felix Hütten

Unternehmen haben das Geschäft mit der Angst entdeckt. Es geht um die Gesundheit des eigenen Kindes, um die Furcht vor dessen plötzlichem Tod. Es ist ein Geschäft im Zeitalter der Digitalisierung: Egal welches Problem, es gibt eine technische Lösung. Die Antworten auf die Ängste der Eltern heißen Monbaby, Baby Vida oder Owlet Smart Sock.

Kleine Geräte, nicht größer als ein Zwei-Euro-Stück, die an den Strampler geklippt oder Babys als Söckchen über den Fuß gezogen werden. Die Geräte aus den USA messen mithilfe von Licht- und Bewegungssensoren die Sauerstoffsättigung im Blut des Säuglings, Herzschlag, Atmung, jedes Umdrehen. Kabellos per Bluetooth werden die Daten auf das Smartphone der Eltern gespielt. Atmet das Kind länger als 15 Sekunden nicht, schlägt das Gerät Alarm. Auch bei Bauchlage: Alarm. Sinkende Sättigung, niedriger Herzschlag: Alarm.

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Alarm für besorgte Eltern, die fürchten, ihr Neugeborenes könnte nicht genug Luft bekommen, aus dem Bett kullern, oder, die absolute Horrorvorstellung, am plötzlichen Kindstod sterben. Der plötzliche Kindstod ist ein Mysterium, denn bisher ist unklar, aus welchem Grund gesunde Kleinkinder unerwartet sterben, meist im Schlaf, einfach so. Mediziner vermuten als einen Risikofaktor die Bauchlage im Bett, weshalb manche Eltern mittels Bewegungssensor die korrekte Schlafposition ihres Kindes überwachen möchten.

"Nicht so schlimm" reicht vielen nicht

Doch auch alltägliche Sorgen treiben Eltern um. Ein Blick in Internet-Foren zeigt das: Da ist die Angst vor zu geringer Sauerstoffsättigung im Blut. Eine Mutter schreibt, ihr Kind sei wegen einer Erkältung im Krankenhaus. Die Sättigungsmessung falle gelegentlich unter 93 Prozent, was nun? Andere Eltern antworten, ist nicht schlimm, ist normal, beruhige dich. "Nicht so schlimm" aber reicht vielen nicht, sie wollen Sicherheit, denn ohne Sicherheit, schreiben die Käufer in Bewertungsforen der Messgerätehersteller, haben sie keine Ruhe.

Deshalb sei die Überwachungstechnik eine große Erleichterung, Kontrolle rund um die Uhr. "Unbezahlbar", schreibt zum Beispiel Vater Kenneth. Kinderärzte sehen die digitale Aufrüstung mit Sorge: "Die Geräte werden Eltern gesunder Kinder angedreht, sie versprechen Ruhe, aber es gibt keine Belege, dass sie Leben retten", sagt Christopher Bonafide vom Children's Hospital Philadelphia. "Dabei können sie unnötige Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel bei Eltern auslösen." Im Fachblatt Jama kritisieren Bonafide und seine Kollegen, dass es keine Daten gebe, die zeigen, dass die Geräte Unfälle oder plötzlichen Kindstod verhindern.

Perfide an der Vermarktungsstrategie der Hersteller sei, schreiben die Kinderärzte, dass diese mangels belastbarer Daten vermeiden, ihre Produkte als Lösung gegen die Angst vor plötzlichem Kindstod zu bewerben - implizit aber genau das tun.

Dabei sei die Wahrscheinlichkeit von Fehlalarmen hoch, warnen die Autoren. Da sich Säuglinge im Schlaf häufig bewegen, kann es leicht passieren, dass die Geräte verrutschen, abfallen oder wegen Pannen einen Fehlalarm auslösen. Eltern müssten jedes Mal entscheiden: Notfall oder nicht?

Das erhöhe den Stress der gesamten Familie. Und selbst wenn die Geräte korrekt messen, gibt es ein Problem. Auch Stille kann Angst auslösen. Woher will man wissen, dass das Gerät tadellos arbeitet, wenn es nicht trötet? Zudem seien die Warnungen der Geräte oft kein Grund für eine Behandlung in der Notaufnahme, so Bonafide. Besorgte Eltern aber wollen kein Risiko eingehen - und fahren mit ihrem Kind in die Klinik. Deshalb rät auch die renommierte American Academy of Pediatrics Eltern von technischem Gerät am Kinderbett ab.

Ob die Geräte auch nur einen Kindstod vermeiden - daran gibt es große Zweifel

Die Unternehmen sehen das erwartungsgemäß anders. Man wolle, schreibt etwa der Sockenmessgerät-Hersteller Owlet, die Gesundheit von Kindern verbessern. 80 000 Eltern würden das Gerät bereits nutzen, mit vollster Zufriedenheit. Ähnlich die Konkurrenz: Monbaby sei kein medizinisches Gerät, sagt Leo Grzhonko, CEO von Mondevices. Man produziere vielmehr ein Produkt, das die elterliche Fürsorge unterstütze, ähnlich wie das Babyfon.

Natürlich könnten Alarmsignale Stress für Vater und Mutter bedeuten, bekennt Grzhonko, doch sei dies nicht anders, wenn das Baby zu schreien beginne: Es braucht die Aufmerksamkeit der Eltern.

Vielleicht aber sind es vielmehr die Eltern, die mehr Aufmerksamkeit brauchen, sagt Olaf Neumann, Chef der Frauenklinik am Klinikum München-Schwabing, wo jedes Jahr 2000 Kinder geboren werden. "In Deutschland ist dieser Überwachungswahn - zum Glück - noch nicht angekommen", sagt Neumann. 737 575 Kinder sind im Jahr 2015 hierzulande geboren worden, 127 von ihnen am plötzlichen Kindstod gestorben. "Wir sprechen von absoluten Ausnahmen." Manchmal beruhigen die Geräte Eltern, die bereits ein Kind verloren haben, so Neumann, "ob sie aber einen Kindstod verhindern, wage ich zu bezweifeln".

Ohnehin gehe es bei der Debatte um etwas anderes, ist der Arzt überzeugt: Während das Kinderkriegen früher zum Alltag der Menschen gehörte, verschwinden Neugeborene heute immer mehr aus dem Familienleben. Viele Menschen lernen den Umgang mit Säuglingen erst, wenn sie Eltern werden - und wollen dann bloß keinen Fehler machen. Ein Schleier der Angst liege über den Familien und damit auch über der Geburtsmedizin, so Neumann. Wichtiger als Geräte sei daher: "Wir müssen den Menschen den Zauber des Kinderkriegens zurückbringen."

© SZ vom 30.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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