Süddeutsche Zeitung

Kampf gegen die Masern:Europas peinliches Problem

Nord- und Südamerika haben es längst geschafft, die Masern auszurotten. In Europa breitet sich die Infektionskrankheit dagegen wieder aus. Derzeit gibt es unter anderem Ausbrüche in der Ukraine. Viele Gesundheitsexperten befürchten, dass Besucher der Europameisterschaft das Virus in alle Ecken des Kontinents tragen könnten.

Kai Kupferschmidt

Im April 2009 reiste ein junger Mann von Hamburg nach Rasgrad im Nordosten Bulgariens. Im Gepäck hatte er mehr als das Geld, das er als Bauarbeiter in Deutschland verdient hatte: Er hatte sich mit dem Masernvirus infiziert. In seiner Heimat angekommen, löste er eine Welle von Erkrankungen aus, die sich vom Nordosten des Landes in den Südwesten wälzte. 24.000 Menschen steckten sich an, 24 starben. Aus Bulgarien wurde der Stamm, Hamburg D-4 genannt, zurück nach Deutschland getragen, aber auch in die Türkei, nach Mazedonien, Griechenland und in zahlreiche weitere Länder Europas.

Der Ausbruch, den Forscher kürzlich aus genetischen und epidemiologischen Daten rekonstruierten, ist nur ein Beispiel von vielen. Doch er illustriert Europas vergeblichen Kampf gegen eine Krankheit, gegen die man sich leicht schützen kann und die schon 2010 auf dem Kontinent ausgerottet sein sollte. Jedes Land in Amerika, von Chile bis Kanada, hat die Masern fast von der Landkarte getilgt. Doch ausgerechnet Europa, eine der reichsten Regionen der Welt, bekommt die Krankheit nicht in den Griff. Im Gegenteil: Seit 2009 haben sich die Fälle in Europa vervierfacht, Frankreich hatte im vergangenen Jahr 15.000 Fälle. 2011 wurden in Deutschland 1607 Fälle gemeldet, doppelt so viele wie 2010.

Auch dieses Jahr hat es schon zahlreiche Ausbrüche gegeben, in Spanien, England, Russland, Rumänien und in einer anthroposophischen Gemeinde in Schweden. Besonders besorgt blicken Mediziner auf die Ukraine. Mehr als 9000 Masernfälle sind dort bereits gemeldet - die Dunkelziffer könnte deutlich höher liegen. Viele Gesundheitsexperten befürchten, dass Besucher der Europameisterschaft das Virus in alle Ecken des Kontinents tragen könnten.

"Ich schäme mich sehr dafür"

Europa exportiert die Masern auch in den Rest der Welt. In den USA gab es 2011 nur 222 Fälle, verschwindend wenig im Vergleich zu Europa, aber die höchste Zahl seit 1996. In den meisten Fällen, in denen der Ursprung ermittelt werden konnte, wurde das Virus aus Europa importiert. "Ich schäme mich sehr dafür", sagt Marc Sprenger, Chef der Europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC in Stockholm.

An dieser Entwicklung könnte auch jeder Plan scheitern, die Masern weltweit auszurotten. Während in ärmeren Teilen der Welt der Zugang zu Impfstoff das Hauptproblem sei, herrsche in Europa Gleichgültigkeit, sagt Diane Griffin, Masernforscherin an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore. "Und das ist das größere Problem, denn wir wissen nicht einmal, wie wir es angehen sollen."

Das Masernvirus wird hierzulande gerne als harmloser Erreger gesehen, ist in Wirklichkeit aber einer der tödlichsten Erreger in der Geschichte der Menschheit. Etwa zwei Millionen Menschen fielen ihm jedes Jahr zum Opfer, bevor 1963 der erste Impfstoff auf den Markt kam. Nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation und der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC sterben noch immer jedes Jahr mehr als 100 000 Menschen an den Masern.

Die meisten von ihnen tötet das Virus nicht direkt. Es schwächt das Immunsystem für mehrere Wochen. Infizieren sich Patienten dann mit einem Bakterium oder Virus, sind sie ihm hilflos ausgeliefert, besonders dort, wo Mangelernährung und schlechte Hygiene herrschen. Das ist auch der Grund, weshalb Entwicklungsländer die meisten Todesopfer zu beklagen haben. In den am schwersten betroffenen Ländern kann jede zehnte Maserninfektion zum Tod führen.

Aber auch das Masernvirus allein tötet Menschen. So führt in Europa eine von 3000 Ansteckungen zum Tod. Jeder tausendste Patient entwickelt eine Gehirnentzündung, die häufig zu bleibenden Schäden führt. Hinzu kommt eine seltene, aber tödliche Spätfolge: Etwa 18 von 100.000 Kindern, die sich vor ihrem ersten Geburtstag anstecken, entwickeln sechs bis acht Jahre später eine degenerative Erkrankung namens subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE). "Das Virus wandert vermutlich bei der ursprünglichen Infektion ins Gehirn", sagt Forscherin Griffin. "Aber die neurologischen Symptome machen sich erst Jahre später bemerkbar. Dann ist das Virus über das ganze Gehirn verteilt."

Dabei gibt es einen wirksamen und billigen Impfstoff. Weniger als einen Euro kosten die zwei Dosen, die 98 Prozent der Geimpften vor einer Ansteckung schützen. In Europa wird in der Regel ein Kombinationsimpfstoff genutzt, MMR genannt, der auch gegen Mumps und Röteln schützt. Weil Masern nur im Menschen vorkommen, wäre es damit theoretisch möglich, diese Geißel der Menschheit auszurotten. Mediziner träumen davon seit Jahrzehnten - und der amerikanische Kontinent, auf dem es seit 2002 keine "einheimischen" Masern mehr gibt, hat gezeigt, dass dies möglich ist. Die Europäische Region der WHO, zu der auch Russland, die Ukraine und die Türkei gehören, setzte sich damals zum Ziel, die Krankheit bis 2010 zu verbannen.

Doch der Plan scheiterte kläglich. Obwohl die Zahl der Masernfälle zunächst abnahm, stieg sie von 2009 an wieder. Im September 2010 entschied sich die WHO dafür, das Ziel für Europa auf 2015 zu verschieben. Auch das wirkt kaum realistisch. 37 000 Masernfälle wurden 2011 in der Europäischen Region gemeldet, davon mehr als 30 000 in der EU.

Europäer unterschätzen die Gefährlichkeit des Virus

Einer der Stolpersteine im Kampf gegen die Krankheit: Das Masernvirus ist so ansteckend wie kaum ein anderer Erreger. Um seine Verbreitung zu unterbrechen, müssen deshalb etwa 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Das hat sich in Europa als äußerst schwierig herausgestellt. "Wenn wir Menschen fragen, warum sie nicht geimpft sind, hören wir immer wieder, dass sie glauben, die Masern seien keine gefährliche Krankheit, oder dass sie Angst haben vor Nebenwirkungen des Impfstoffes", sagt Ole Wichmann vom Robert-Koch-Institut.

Die Angst vor der Impfung dürfte zumindest teilweise auf den Wakefield-Skandal zurückzuführen sein. Der britische Gastroenterologe Andrew Wakefield hatte 1998 behauptet, der MMR-Impfstoff könne zu Autismus führen. Vor allem in Großbritannien und Irland fiel die Impfrate daraufhin steil ab. Der Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus konnte allerdings nie nachgewiesen werden und Wakefields Arbeit wurde als Fälschung enttarnt. Doch sein Vermächtnis ist eine diffuse Angst vor der Masernimpfung und eine Generation von Jugendlichen, die gegen das Virus kaum geschützt ist.

Hinzu kommen Gruppen wie die Anthroposophen und manche Religionsgemeinschaften, die die Impfung aus Überzeugung ablehnen. Auch viele Sinti und Roma sind nicht geimpft. Sie gelten als "schwer erreichbar". In Wirklichkeit gebe man sich nur nicht genug Mühe, sie ins Gesundheitssystem zu integrieren, sagt Robb Butler vom europäischen Regionalbüro der WHO. "Man muss diesen Menschen die Möglichkeit geben, durch die Tür reinzukommen und mit jemandem zu reden, der ihre Sprache spricht, und nicht auf sie herabblickt, als seien sie Bürger zweiter Klasse", fordert er.

In Deutschland gibt es klare geografische Unterschiede: "In Ostdeutschland sind die Masern fast verschwunden", sagt Wichmann. "Unser Problem ist Süddeutschland." Dort gebe es Gegenden, etwa um anthroposophische Schulen herum, in denen die Impfraten niedrig seien. Aber auch einzelne Ärzte, die ihren Patienten von der Impfung abrieten, könnten einen großen Effekt haben. "Das Gesundheitspersonal hat immense Verantwortung", sagt Sprenger - und betont, dass das ECDC versuche, Ärzte und Krankenpfleger stärker einzubinden. Dazu gehöre auch, dass Ärzte geimpft sein sollten, sagt Wichmann. In einem Fall in München wurde im vergangenen Jahr ein junger Mann auf einer Krebsstation mit Masern infiziert und starb. "Wer nicht geimpft ist, sollte zumindest nicht auf der Intensiv- oder Krebsstation arbeiten dürfen, wo besonders gefährdete Patienten sind", fordert der RKI-Experte.

Es gibt auch banalere Gründe, warum manche Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen, sagt Wichmann: "Einer der häufigsten ist, dass sie es vergessen, oder keine Zeit haben." WHO-Experte Butler regt an, Eltern mehr Möglichkeiten zu bieten, Kinder außerhalb der Arbeitszeiten impfen zu lassen - oder Arbeitgeber zu ermutigen, Angestellten dafür freizugeben. "Wir führen dieses unfassbar schnelle Leben, aber Impfkampagnen haben sich nicht geändert." Meist handele es sich noch immer um Poster, Broschüren, Sticker. "Aber ein Sticker ändert nichts, wenn jemand keine Zeit hat."

Den meisten dieser Probleme mussten allerdings auch die amerikanischen Länder begegnen. Und so bleibt es ein Rätsel, warum Länder wie Guatemala, Peru und Bolivien erreicht haben, was in Großbritannien, Portugal oder Deutschland nicht zu schaffen scheint. Für Diane Griffin ist die Antwort klar: In den USA und vielen anderen Ländern in Amerika müssen Kinder nachweisen, dass sie gegen Masern geimpft sind, ehe sie in die Schule können. "Es gibt keinen Grund zu glauben, dass wir nicht dieselben Probleme in Amerika hätten, wenn die Impfung nicht Pflicht wäre", sagt Griffin. "Das ist wie mit Ihrem Auto. Wenn Sie niemand zwingen würde, dass Sie es alle paar Jahre zur Inspektion bringen, würden Sie es auch nicht tun."

Tatsächlich erlaubt das deutsche Infektionsschutzgesetz ähnliche Maßnahmen, sind die Masern erst mal ausgebrochen. So wurden bei einem Masernausbruch in Berlin im Mai alle Schüler, die nicht geimpft waren oder das nicht nachweisen konnten, für zwei Wochen nach Hause geschickt. Sprenger, Wichmann und andere Experten sind sich jedoch einig, dass eine Impfpflicht in Europa schwer durchzusetzen wäre. Solange es möglich sei, die Masern auch anders zu besiegen, sei eine Impfpflicht auch ethisch schwer zu vertreten, sagt Dorothea Matysiak-Klose vom RKI. "Durch zusätzliche Aktionen in Schulen, Berufsschulen und Krankenhäusern könnte man noch sehr viel erreichen", sagt sie. "Aber die Gesundheitsämter haben häufig nicht die Ressourcen, und viele Politiker sehen keine große Relevanz darin, sich um die Masern zu kümmern."

Es sei eine Tragödie, dass die Länder der Ersten Welt vergessen hätten, wie wichtig Impfungen sind, sagt Seth Berkley, Leiter der internationalen Impfstoffallianz GAVI. "Meine Frau hat die Intensivstation eines großen Krankenhauses in New York geleitet, aber nie auch nur einen Fall von Masern gesehen. Ich bin in einem Flüchtlingslager gewesen und habe die Masern durchkommen sehen und jeden Tag die kleinen Gräber all der Babys, die beerdigt wurden. Das vergisst man nicht."

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SZ vom 13.06.2012/goro
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