Etwa für jeden fünften Bundesbürger liegen sie bereit: Grippemittel, die im Falle einer Pandemie die lebensgefährlichen Komplikationen der Infektion entschärfen sollen. Allein das Land Bayern hat 22.Millionen Euro dafür ausgegeben. Dass das Geld nicht einmal dann gut angelegt sein wird, wenn wirklich einmal eine Grippe-Pandemie zuschlägt, zeigt nun eine aktuelle Analyse. Sie belegt, was kritische Stimmen schon seit Jahren formulieren: dass die Virenhemmer keinesfalls so nützlich sind, wie es ihre Hersteller versprechen.
Die verfügbaren Daten zu den Grippemitteln Zanamivir (Relenza) und Oseltamivir (Tamiflu) sind schwach. Und im Fall von Tamiflu wurden offenbar selbst diese schwachen Daten geschönt, behauptet ein internationales Gutachterteam der Cochrane Collaboration.
(Foto: AP)Schon seit langem fragen sich Pharmaexperten, weshalb die beiden Grippemittel Zanamivir (Relenza) und Oseltamivir (Tamiflu) eigentlich in Politik und Bevölkerung ein so hohes Ansehen genießen. Die verfügbaren Daten zu den Arzneien sind schwach. Demnach nützen die Mittel allenfalls dann zur Behandlung, wenn sie bei den ersten Symptomen genommen werden.
Und im Fall des bekannteren Tamiflu wurden offenbar selbst diese schwachen Daten geschönt, behauptet jetzt ein internationales Gutachterteam der Cochrane Collaboration, eines Netzwerks von Wissenschaftlern, das systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung von medizinischen Therapien erstellt.
Nun gebe es keine Evidenz mehr dafür, dass die Grippemittel schwere Komplikationen wie Lungenentzündungen verhindern könnten, erklärt das Team um den britischen Epidemiologen Tom Jefferson, der in Rom für die Cochrane Collaboration arbeitet.
Die Grippemittel standen im Jahr 2006 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Damals ging die Angst um, der Erreger der Vogelgrippe könne zu einem Virus mutieren, das sich auch gegen Menschen richtet und todbringend um die Welt zieht. Tamiflu und Relenza, die einzigen spezifischen Grippemedikamente, sollen so eine Influenzapandemie zähmen können. Das verspricht schon der Name Tamiflu; er ist ein Phantasiewort aus dem englischen "tame" für zähmen und "flu" für Grippe.
Hinweise von einem japanischen Kinderarzt
Dass Tamiflu das könne, ergab auch so manche wissenschaftliche Studie. Demnach waren die gefürchteten Atemwegskomplikationen, die im Verlauf einer Grippe tödlich sein können, deutlich seltener, wenn Patienten bei einem Verdacht auf eine Influenza mit dem Grippemittel behandelt wurden. Grippekranke sterben in der Regel nicht an den Influenzaviren; vielmehr öffnen die Viren den gefährlichen bakteriellen Erregern einer Lungenentzündung die Tür. Das kann den Grippekranken zum Verhängnis werden.
Tamiflus Karriere wurde vor allem durch eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2003 befördert. Die Arbeit war unter Federführung von Laurent Kaiser entstanden, dem Leiter des Zentralen Virologischen Labors am Genfer Universitätsklinikum. Kaisers Team hatte dazu zehn bis dahin vorliegende Wirksamkeitsstudien in Augenschein genommen - allerdings waren alle vom Tamiflu-Hersteller Roche selbst durchgeführt worden.
So kam Kaiser zu dem Schluss, dass Patienten messbar weniger Komplikationen erlitten, wenn sie Tamiflu bekamen: Jeder achte Tamiflu-Patient benötigte wegen einer drohenden Lungenentzündung ein Antibiotikum (45 von 368 Testpersonen); ohne Tamiflu (aber mit Placebo) war es jeder fünfte (74 von 401 Testpersonen).
Wo auch immer die Studienlage zu Tamiflu einer wissenschaftlichen Revision unterzogen wurde, wurde Kaisers Übersichtsarbeit zitiert und deren Schlüsse offenbar kritiklos übernommen. Als im Zuge der Vogelgrippe die Staaten, die es sich leisten konnten, Millionenreserven des Grippemittels anlegten, diente die Arbeit als Referenz dafür, dass man ein wirksames Mittel eingekauft hatte.
Auch Tom Jefferson und seine Mitarbeiter vertrauten Kaisers Einschätzungen, als sie 2006 zum ersten Mal die Studienlage zu Grippearzneien auswerteten. 2009 bekamen sie vom britischen National Institute for Health Research den Auftrag für eine erneute Revision. Kurz darauf kam Post aus Japan.
"Ein Kinderarzt aus Osaka wies uns darauf hin, dass wir uns auf zweifelhafte Daten verlassen hatten", sagt Jefferson. "Die Autoren des Kaiser-Reviews sind vier Angestellte und ein bezahlter Berater von F. Hoffman-La Roche Ltd. - und Kaiser", schrieb Keiji Hayashi. "Und nur zwei der zehn Studien sind in Fachzeitschriften publiziert worden." Nur in den acht unvollständig veröffentlichten Arbeiten aber, so Hayashi, würde Tamiflu besser wirken als ein Placebo.
Die Cochrane-Gutachter nahmen die Hinweise ernst. Sie wollten tiefer graben, tiefer als das, was der Öffentlichkeit bis dahin freiwillig an Auswertungen und Basisdaten vorgelegt worden war. Dazu aber brauchten sie nackte Daten, anders ausgedrückt: die nüchternen, uninterpretierten Studienprotokolle.
Kaiser aber verwies Jefferson an Roche. Doch der Konzern wollte dem Briten nur im Tausch gegen eine Verschwiegenheitserklärung Einsicht in seine Protokolle gewähren. Das wollte sich Jefferson nicht bieten lassen. Im Dezember 2009 machten er und seine Mitstreiter die Lücken in den publizierten Daten im British Medical Journal öffentlich.
Zugleich zogen sie für ihre Neubewertung nur jene Studien heran, die üblicherweise in eine Übersichtsarbeit fließen: solche, die vollständig publiziert sind. So kamen sie zu demselben Schluss wie Keji Hayashi: Allen veröffentlichten Daten zufolge beuge Tamiflu Atemwegskomplikationen infolge einer Grippe nicht besser vor als ein Placebo, so das Fazit.