Kampagne gegen überflüssige Behandlungen:Wenn Ärzte zu viel wollen

Wie sage ich es dem Patienten? Ärzte sollen besser kommunizieren

Für die Choosing-Wisely-Kampagne beschreiben Vertreter verschiedener medizinischer Disziplinen überflüssige Therapien, die ihr Fach zu bieten hat.

(Foto: Patrick Pleul/dpa)

Großbritanniens Ärzteverbände wollen in einer gemeinsamen Aktion überflüssige Tests und Therapien verdammen. Warum tut sich Deutschland so schwer damit?

Von Werner Bartens

Der Youtube-Clip dauert nur vier Minuten und 26 Sekunden. Zur Melodie von Pharrell Williams' Ohrwurm "Happy" tanzen und singen ein paar freundliche Menschen und erklären, was die Choosing-Wisely-Kampagne eigentlich bedeutet - nämlich nur sinnvolle und wirksame medizinische Prozeduren zuzulassen. "Es gibt Tests, Behandlungen und Eingriffe, die du wirklich nicht brauchst", heißt es gleich in der ersten Strophe. "Manche sind ganz nützlich, andere im besten Fall irreführend." Ganzkörper-CT, jährlicher Check-up schaden mehr, als dass sie nutzen, Bildgebung bei kleinen Verletzungen, Antibiotika bei Erkältungen - all das macht eher krank als gesund. Versmaß und Rhythmus werden erstaunlich gut gehalten und als Refrain ertönt immer wieder: "We're choosing wisely."

Es ist keine neue Erkenntnis, dass medizinische Untersuchungen und Therapien nicht nur nutzen, sondern auch schaden können und Ärzte manchmal in ihrem Übereifer gebremst werden müssen. Schon im alten Mesopotamien erließ Hammurabi im 18. Jahrhundert vor Christus ein Gesetz, wonach allzu ehrgeizige Chirurgen mit dem Verlust einer Hand oder eines Auges bestraft wurden. Und als um 1915 die vorbeugende Entfernung der Appendix, also des Wurmfortsatzes des Blinddarms, und in den 1930er-Jahren die präventive Operation der Mandeln immer häufiger wurden, fragte der Arzt Ernest Codman aus Boston, ob seine Chefarzt-Kollegen "überhaupt ihren Unterhalt verdienen können, ohne eine Menge Humbug anzustellen". Klinischer Alltag und medizinische Wissenschaft seien wohl auf Dauer nicht kompatibel, so sein Fazit.

Zu einem ähnlichen Schluss könnten die Verfechter einer rationalen Medizin heute noch kommen. Mehr denn je lassen sich mit immer genaueren Methoden Auffälligkeiten und Normabweichungen im Körper feststellen und detaillierte Einblicke gewinnen. Oft hat der Befund aber keinerlei Bedeutung. Der Mensch fühlt sich nicht krank und ist es auch nicht, wird aber trotzdem mit einer Diagnose versehen und behandelt. Da die Mehrzahl dieser Normabweichungen nie zu Beschwerden führt oder gar das Leben verkürzt, sind Behandlung und Diagnose im besten Falle nutzlos, im schlimmsten Falle schädlich. Schließlich werden dabei Blutgefäße zerstochen, Schläuche in Körperhöhlen geschoben und Strahlen in das Innere des Menschen gelenkt. Weitere Eingriffe folgen, die Angst vor schwerem Leid und das Gefühl, nicht mehr gesund zu sein, inklusive.

Das Prinzip ist einfach: Mediziner stellen Top-5-Listen der sinnlosen Prozeduren auf

Um diese überflüssigen und gefährlichen Überdiagnosen und Übertherapien zu verhindern, wurde vor vier Jahren die Choosing-Wisely-Kampagne begründet, zunächst in Nordamerika. Das Prinzip ist ebenso einfach wie überzeugend: Vertreter verschiedenster medizinischer Disziplinen stellen Top-5-Listen auf und beschreiben die überflüssigsten Prozeduren, die ihr Fach zu bieten hat - und auf die in Zukunft besser verzichtet werden sollte. Allein in den USA haben sich mehr als 60 Fachgesellschaften an der medizinischen Mülltrennung beteiligt. In dieser Woche schließen sich die britischen Ärztevereinigungen an, im British Medical Journal (online) stellen Ärzte aus London und Oxford die Initiative vor, mit der sie den Schaden durch "too much medicine" verringern wollen.

"Solche Kampagnen sind ein entscheidender Schritt, um die Patientenversorgung zu verbessern", sagt Gerd Antes, Leiter des Deutschen Cochrane-Zentrums in Freiburg, das die Qualität medizinischer Studien bewertet. "Es ist wichtig, nur jene medizinischen Maßnahmen zu finanzieren, die erwiesenermaßen sinnvoll sind. Da die Mittel im Gesundheitswesen begrenzt sind, dürfen sie nicht für unwirksame Therapien vergeudet werden." Allerdings sei bei den bisherigen Choosing-Wisely-Listen der überflüssigen Prozeduren nicht immer sicher, ob sie tatsächlich nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin erstellt worden sind. "Was überflüssig ist und was nicht, können nicht nur einzelne Experten entscheiden, sondern die wissenschaftlichen Beweise müssen methodisch hochwertig, stichhaltig und für andere nachvollziehbar sein."

Deutschland hinkt hinterher

Während die USA, Kanada und nun auch Großbritannien in einer konzertierten Aktion die Kampagne für eine bessere und rationalere Medizin unterstützen, hinkt Deutschland noch hinterher. Zwar haben die Internisten, die Chirurgen und einige andere Fachverbände auf ihren Jahreskongressen ebenfalls zur "weisen Auswahl" aufgerufen und das Thema auf die Agenda gesetzt. "Es fehlt aber eine einheitliche Strategie, in der sich die Fachverbände und Ärztekammern zusammenschließen", sagt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke. "Das sind Einzelinitiativen, aber kein großer Wurf."

Schmacke ist sich zudem nicht sicher, ob der Aufruf zu einer Medizin, die Patienten schützt und das Überflüssige eliminiert, tatsächlich greift. Dazu würden zu viele Interessengruppen im Gesundheitswesen davon profitieren, lukrative, aber fragwürdige Tests und Therapien anzubieten, ohne dass dies gesetzlich oder standesrechtlich untersagt wäre. "Noch ist nicht klar, in welchem Ausmaß es sich bei ,Choosing-wisely' um eine halbherzige Aktion handelt, um ein Feigenblatt", sagt Schmacke. "Wir müssen uns ja fragen, was gleichzeitig an nicht oder nur schlecht begründeten Neuerungen hinzukommt, während Unnützes gestrichen wird." Die Initiative sei denn auch ein Kompromiss zwischen banalen und wichtigen Empfehlungen. "Dass Antibiotika bei Virusinfekten sinnlos sind, ist seit Jahren bekannt. Keine Protonenbestrahlung bei Prostatakrebs zu empfehlen, ist hingegen eine neue und bedeutende Ansage", so Schmacke. "Bei manchen Streichungen fragt man sich allerdings: Ist das nicht eigentlich selbstverständlich?"

Bei Krebskranken wird mehrmals die Chemotherapie gewechselt - auch wenn das eher schadet

Dass Patienten unnötiges Leid erspart wird, wenn sich die Medizin darauf besinnt, unnötige, fragwürdige oder gefährliche Eingriffe und Untersuchungen zu unterlassen, begrüßen viele Mediziner. "Man kann zwar darüber schmunzeln, dass etliche Ärzte erst jetzt daraufkommen, aber es ist eine sinnvolle Initiative", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt für Krebsmedizin in Berlin. "In der Onkologie kann auf diese Weise viel Schaden von Patienten abgewehrt werden." So würden Krebskranke im fortgeschrittenen Stadium oft noch unnötigen Strahlenbelastungen durch Kontroll-CT ausgesetzt oder mehrmals die Chemotherapie gewechselt. "Wenn die Krankheit nicht gut auf das erste und auf das zweite Behandlungsprotokoll angesprochen hat, ist es überflüssig und schädlich, erneut die Chemotherapie zu wechseln", so Ludwig. "Das wird oft aus Unsicherheit gemacht - und um Gespräche zu vermeiden, in denen es um die Grenzen der Behandlung und um die Endlichkeit des Lebens geht."

Der Widerstand gegen eine Medizin, die zuvorderst den Kriterien wirksam, nützlich und belegbar gehorcht, ist vermutlich in Deutschland auch deshalb größer als anderswo, weil nirgendwo sonst Ärztefunktionäre die angebliche Therapiefreiheit der Mediziner so betonen. Unter diesem Schlagwort lässt sich schließlich fast jeder Eingriff rechtfertigen, medizinischem Wildwuchs sind so keine Grenzen gesetzt. "Es gibt vor allem eine Therapieverantwortung", sagt Gerd Antes. "Man kann Schäden in der Medizin nie ganz ausschließen, aber man muss versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren."

Aus Sicht von Norbert Schmacke haben sich die ärztlichen Fachgesellschaften in der Vergangenheit "nicht mit Ruhm bekleckert, wenn es um die Kunst ging, Nutzen und Risiken für Patienten sorgsam einzuschätzen. Es hat beispielsweise Jahrzehnte gedauert, bis die Urologen murrend zugestimmt haben, dass sich der PSA-Test nicht für das Screening auf Prostatakrebs eignet." Für Wolf-Dieter Ludwig hat der Aufruf gegen unnütze Medizin auch noch eine Komponente, die sich aus dem Lebenslauf und der Fähigkeit zur Selbstkritik zwangsläufig ableiten sollte: "Ab einem gewissen Alter muss man als Arzt doch auch zugeben, wie viel Blödsinn man macht und gemacht hat."

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