Süddeutsche Zeitung

Kabinett der Kalamitäten:Wenn die Blase schüchtern ist

Der Körper ist ein Wunderwerk - und verwundert uns täglich aufs Neue. Er produziert seltsame Geräusche, Gerüche, Ticks, Besessenheiten und Beschwerden. Hält sich aber gerne bedeckt, wenn man fragt: Wo kommt das her? Und vor allem: Wie geht das wieder weg? Eine Serie über Alltags-Misslichkeiten. Teil 3: die schüchterne Blase.

Von Berit Uhlmann

Es war eines der seltsamsten Experimente. US-Psychologen entsandten ihre Studenten ins Pissoir, damit sie die Uriniergewohnheiten ahnungsloser Männer vermaßen. Die Beobachter postierten sich entweder an einem der Nachbarurinale, wo sie sich zur Tarnung kämmten, oder spähten mithilfe von Kameras aus WC-Kabinen heraus. Mehr als 100 Harnstrahle wurde beobachtet.

Das war 1976 und selbst in dieser Ära der Befreiung ernteten die Forscher erhebliche Entrüstung, die zugleich den Kern des Problems zeigt. Das Erleichtern der Blase ist ein so sensibles Geschäft, dass jede Aufmerksamkeit dafür verstört. Das ist wörtlich zu verstehen, wie auch die US-Psychologen zeigten.

Fühlt der Mensch sich auf der Toilette nicht allein, ist ihm das nicht nur unangenehm. Die Muskeln, die die Blase verschließen, können so verkrampfen, dass es mit dem Entleeren nicht so recht klappen will. Das Phänomen heißt "Paruresis" oder "schüchterne Blase" und ist zumindest in leichter Ausprägung weit verbreitet. Bei Dopingkontrollen berichten bis zu 60 Prozent der Sportler, dass sich die Abgabe der Harnprobe unter den Augen der Aufseher mühsam gestalten könne.

Besonders anfällige Menschen machen sich zugleich Gedanken darüber, dass andere das Geschehen im WC als nicht normgerecht bewerten könnten: zu langsam, zu lange, zu profan, irgendwie eklig.

Sie alle seien hiermit aufgeklärt, dass Niere und Blase jede Wertschätzung verdienen. Der durchschnittliche Erwachsene produziert täglich etwa 1,5 bis 2 Liter Urin, was sich im Lauf seines Lebens auf den Inhalt eines kleinen Swimmingpools addieren würde. Dabei ist das System weit mehr als eine Abwasserleitung, es reguliert unermüdlich den Wasser- und Salzhaushalt im Körper. Die Niere produziert zudem Hormone, die unter anderem den Blutdruck regeln. Urin besteht aus 3000 verschiedenen Substanzen, frisch produziert riecht er kaum - abgesehen vom seltsamen Aroma nach dem Spargelessen, das im Übrigen auch schon erforscht ist.

Wer sich Sorgen über seine Performance auf der Schüssel macht, sollte auch wissen: Es gibt keinerlei Norm, was die Geschwindigkeit des Toilettenbesuchs anbelangt. Gewisse Anlaufschwierigkeiten scheinen allerdings normal zu sein. In der US-Studie brauchten auch jene, die sich unbeobachtet wähnten, fünf Sekunden, ehe das Wasser floss. Kamen ihnen die Beobachter nahe, verlängerte sich das Zögern auf acht Sekunden. Der ganze Vorgang nahm 25 Sekunden in Anspruch.

Man kann auf Basis dieser Kenntnisse also entspannt abwarten, wenn es auf dem Örtchen länger still bleibt. Männern hilft es bisweilen, wenn sie sich in eine Kabine zurückziehen; Geräusche in der Umgebung können dazu beitragen, sich weniger belauscht zu fühlen.

Kein Erfolg ist dagegen von einem Training der Blase zu erwarten. Das Fassungsvermögen von zirka einem halben Liter lässt sich nicht erweitern. Wird es überschritten, platzt die Blase nicht, sondern läuft über. Ebenfalls keine Lösung ist, das Trinken einzustellen. Trocknet der Mensch aus, drohen noch viel mehr Organe eingeschüchtert zu reagieren; es kann zu Kopfschmerzen, Müdigkeit, Verstopfung, Herzrasen, Verwirrtheit, Sehproblemen, Nierenproblemen und Muskelkrämpfen kommen.

Zu mehr Gelassenheit trägt vielleicht auch die Information bei, dass die Fälle, in denen die Paruresis zur echten Belastung wird, gut behandelbar sind. Verhaltenstherapien hatten Erfolg.

Ganz Mutige können einen Workshop besuchen, den die Internationale Paruresis-Vereinigung auch in Deutschland anbietet. Auf dem Programm stehen gemeinsame "Praxis-Sitzungen" und "Gruppen-Diskussionen" über den Ausgang dieser Sitzungen. Wer Derartiges durchsteht, dürfte seiner Blase einen gewaltigen Kick fürs Ego verschafft haben.

Hinweis: In dieser Serie beschäftigen wir uns mit Phänomenen, die im Alltag als sehr störend erlebt werden, in den meisten Fällen jedoch keinen echten Krankheitswert haben. Allerdings - auch dies wollen wir hier zeigen - sind Menschen sehr unterschiedlich. So können die Beschwerden in manchen Fällen einen starken Leidensdruck erzeugen, den wir keineswegs bagatellisieren wollen. Wessen Lebensqualität leidet, sollte sich auf jeden Fall professionelle Hilfe suchen.

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