Kabinett der Kalamitäten:Die mit dem Ohrwurm ringen

Ohrwurm

90 Prozent aller Menschen leiden mindestens einmal wöchentlich am Ohrwurm.

(Foto: Illustration: Dalila Keller)

Der Körper ist ein Wunderwerk - und verwundert uns täglich aufs Neue. Er produziert seltsame Geräusche, Gerüche, Ticks, Besessenheiten und Beschwerden, hält sich aber gerne bedeckt, wenn man fragt: Wo kommt das her? Und vor allem: Wie geht das wieder weg? Eine Serie über Alltags-Misslichkeiten. Teil 1: der Ohrwurm.

Von Berit Uhlmann

Heute schon "Brown Girl in the Ring" gesummt? Ist ein "Schalalala" herausgeplatzt? Halb so wild. Wirklich geprüft ist, wer Ohrwürmer abseits des Musik-Mainstreams erlebt. Eltern haben aus diesem Grund gelernt, Rolf Zuckowski zu fürchten: "Zwischen Mehl und Milch macht so mancher Knilch eine riesengroße Kleckerei". Solche Zeilen in innerer Endlosschleife sind im Büromeeting kein Spaß. Man glaubt dann gerne, dass etwa 30 Prozent aller Menschen an ihren Ohrwürmern leiden. Denn hat sich die Zuckowskische "Kleckerei" erst mal festgesetzt, ist der Gedanke an die komplette mentale Zerrüttung nicht mehr weit.

Deshalb die tröstlichste Botschaft als Erstes. Der Ohrwurm ist bereits der Gipfel des alltäglichen Wahnsinns. Verrückter als im Kopf "Who Let the Dogs Out" zu brüllen, wird man nicht mehr. Man weiß solche Sachen, weil sich vor etwa zehn Jahren eine kleine Ohrwurm-Forschungsgemeinde etabliert hat. Ein wichtiges Zentrum ist Finnland, wo es die Forscher mit so komplizierten Ohrwürmern wie "Sä Kuulut Päivään Jokaiseen" zu tun haben und damit zur bisher größten Erkenntnis ihres Fachgebietes beitrugen: Jedes Land hat seinen Costa Cordalis. Der Ohrwurm wird weltweit produziert und durchlitten; etwa 90 Prozent aller Menschen erleben ihn mindestens einmal wöchentlich. Wer sehr viel Musik hört, auch öfter.

Die Forschungsgemeinde hat außdem ein paar bewährte Strategien gegen die festsitzenden Melodien dokumentiert. Verbreitet ist zum Beispiel die Methode, die die Wissenschaftler - ein bisschen Spaß muss sein - "Let it be" tauften. Sie besagt, man solle warten, bis der Ohrwurm von alleine weggeht, im Schnitt dauert das 25 Minuten, bei großem Pech ein paar Tage länger. Die Wissenschaftler halten es für sehr aussichtsreich, den Ohrwurm gar nicht erst zu bekämpfen. Schließlich wissen Psychologen schon lange, dass der Vorsatz, bloß nicht an eine bestimmte Sache zu denken, die Gedanken erst recht dorthin schweifen lässt.

Außerdem empfehlen die Wissenschaftler das Gegenteil. Man soll sich bitte gründlich mit dem Lied beschäftigen. Denn Psychologen wissen schließlich schon lange, dass gerade das Unvollständige besonders lange im Bewusstsein verharrt und dort sozusagen auf seinen Abschluss wartet. Und beim Ohrwurm setzte sich ja meist nur eine vereinzelte sinnfreie Zeile fest, die in ihrer Unvollständigkeit den Menschen nicht loslässt. Allerdings kann niemand garantieren, dass es im Rest eines typischen Ohrwurmliedes wirklich sinnvoll wird. Stillt es die Sehnsucht nach Vollendung, wenn man weiß, dass "Brother Louie" in einen Reim mit "Oh, she's only looking to me" gepresst wird?

Die schlimmsten Ohrwürmer

Die Forscher haben dann noch den Rat, alles ganz anders zu machen und sich mit Sudoku oder anderem Denksport abzulenken. Psychologen wissen schließlich auch, dass die inneren Songs durch ganz bestimmte Schlüsselreize ausgelöst und am Leben erhalten werden. Wer nun beschäftigt ist, die Wurzel aus Pi zu ziehen, läuft seltener Gefahr, den bedrohlichen Heroes, Hellos, Hopes und Hossas zu begegnen.

Und weil der echte Forscher nichts ausschließt, gibt es noch die Empfehlung, sich die volle Dröhnung Schlüsselreize zuzuführen. Denn Psychologen meinen nämlich, dass sich Reize besonders gut durch sehr ähnliche Reize aus dem Kurzzeitgedächtnis verdrängen lassen. Dort herrscht eine gewisse Enge, und das Aussortieren erfolgt nach eher robusten Kriterien: Zu viel ähnliches braucht kein Mensch. Im Falle des Ohrwurms soll sich also ein Song mit dem nächsten vertreiben lassen. Ein "My Sharona" verschwindet zugunsten von "Mamma Mia", die sich durch "Maria, Maria" ausradieren lässt, was wiederum von "Anita" geschlagen wird.

Tatsächlich halten sich erstaunlich viele Menschen eigens zum Zwecke der Ohrwurmaustreibung ein ganz bestimmtes Lied vor, so dass britische Psychologen bereits eine Hitliste der Heilungslieder erstellen konnten. Hat sich etwa ein "Barbie Girl" im Hirn verkantet, sucht die Mehrheit der Briten Zuflucht bei "God save the Queen", gefolgt von "Happy Birthday" und "Karma Chameleon". Mit Glück greift bei den Songs Methode 1 und sie schwinden von allein.

Das Fazit der jahrelangen Forschung scheint daher: Die Vertreibung des Ohrwurms ist eine höchst individuelle Angelegenheit, bei der jeder für sich experimentieren muss. Das ist nun wirklich plausibel, denn auch der Ohrwurm selbst ist ein sehr exklusives Erlebnis. In einer Umfrage über die hartnäckigsten Ohrwürmer belegte "Who let the dogs out" Platz 3. Auf den zweiten Rang kam ein konkurrenzlos penetranter Werbesong für "Baby Back Ribs" (wir raten vom Abhören ab, aber wenn Sie sich unbedingt den Tag ruinieren wollen: bitteschön). Platz 1 aber lautete: "other". Das ist nicht der verlorene Reim vom "Loui Brother", sondern bedeutet, dass die meisten Befragten einen schlimmsten Ohrwurm hatten, den sie mit niemandem teilten. Andererseits: Gefragt wurden US-Studenten. Womöglich kannten die das österreichische Kulturgut "Live is Life" nicht.

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