In Deutschland gibt es 2,86 Millionen Pflegebedürftige. 2,08 Millionen von ihnen werden zu Hause von Angehörigen gepflegt. Ihre Situation sollte durch die Pflegestärkungsgesetze verbessert werden, die nun ein Jahr in Kraft sind. Brigitte Bührlen hat sich 20 Jahre lang um ihre demente Mutter gekümmert, sieben Jahre davon im eigenen Haushalt. 2010, zwei Jahre nachdem die Mutter starb, gründete sie die "WIR! Stiftung pflegender Angehöriger". Seither setzt sie sich für die Rechte derer ein, die sich um ihre Nächsten kümmern.
SZ: Hat sich die Situation für pflegende Angehörige verbessert?
Brigitte Bührlen: Das Problem ist weiterhin, dass wir seit Bismarcks Sozialgesetzen auf die ehrenamtliche Arbeit der Bürger setzen. Daran hat sich nichts geändert. Die professionelle Pflege ist eine Ergänzung, sie ist eine zeitgetaktete Unterstützung.
Die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat in einer Studie berechnet, dass für pflegende Angehörige pro Woche im Schnitt 63 Stunden Arbeit anfallen. Dazu haben sie Kosten in Höhe von 360 Euro, die nicht erstattet werden.
Wenn Sie jemanden pflegen, managen Sie neben Ihrem eigenen noch ein weiteres Leben: Arzttermine, Frisör, Steuererklärung, Kassen- und Bankangelegenheiten, Fahrzeit, kochen, putzen, waschen und anziehen. Die Leute werden zerrissen zwischen all dem, was dazugehört, einen Menschen zu pflegen. Für vieles davon bekommt der Pflegebedürftige zwar Geld, das er an den Angehörigen weitergeben kann. Für vieles aber auch nicht.
Aber sie werden jetzt besser entlastet. Angehörigen wird bis zu zehn Tage im Jahr der Lohn ersetzt, wenn sie sich akut kümmern müssen. Und sie können ihre Arbeitszeit bis zu zwei Jahre lang reduzieren.
Beides klingt wahnsinnig toll. Aber um Lohnersatz zu bekommen, müssen sie das bei ihrem Arbeitgeber melden, ein Attest vom Arzt der gepflegten Person bekommen und den Vorgang unmittelbar bei der Kasse beantragen. All das, während sie sich eigentlich um einen Angehörigen kümmern, der genau jetzt ihre Hilfe braucht. Das sind Details, an denen man sieht, dass die Gesetze nicht vom Alltag her gedacht wurden.
Viele Angehörige melden sich lieber krank, als sich durch die Bürokratie zu kämpfen. Ich appelliere da auch an die Arbeitgeber, für die ist das ein großer Nachteil. Und zwei Jahre lang weniger zu arbeiten und damit auch weniger Gehalt zu bekommen, kann sich auch nicht jeder leisten.
Es gibt mehr Geld für Tages- und Nachtpflege, also, wenn Pflegebedürftige nur tagsüber oder für eine Nacht in eine Einrichtung gehen. Außerdem können sie jetzt bis zu acht statt vier Wochen Kurzzeitpflege beanspruchen.
Alle drei Varianten haben immer noch das Problem, dass die Einrichtungen pro Tag und Person bezahlt werden. So kann sich keine Einrichtung erlauben, Plätze frei zu lassen. Tagespflege klappt noch ganz gut, aber die Anbieter für Nachtpflege kann man nach wie vor an einer Hand abzählen. Ich kenne Leiter von Einrichtungen, die das gerne anbieten würden. Das ginge aber nur, wenn sie eine finanzielle Grundlage unabhängig davon hätten, wie viele Plätze belegt sind. Das gilt auch für die Kurzzeitpflege. Kurzfristig kann das klappen, wenn gerade ein Platz im Heim frei ist. Aber einen Pflegeplatz für ein, zwei Wochen ein halbes Jahr im Voraus zu reservieren, das machen nur wenige. Viele Heime wollen sich nicht festlegen, denn sie würden den Platz lieber an jemanden vergeben, der lange bleibt. Regelmäßig erzählen mir Leute, die eine Woche in den Urlaub fahren wollen, dass das nicht geht, weil sie keinen Pflegeplatz für die kurze Zeit finden.
Was ist mit den 125 Euro, die jetzt jedem für Entlastungsangebote wie Einkaufs- oder Putzhilfen zustehen?
Da gibt es momentan sehr viel Unruhe unter den Angehörigen. Es haben nämlich erst mal alle gedacht, dass sie die 125 Euro ausgeben könnten, so wie sie denken, dass es am besten sei. Also zum Beispiel mal zehn Euro an die Nachbarin, wenn die mit der Mutter einen Kaffee trinken geht. Aber so funktioniert das nicht. Das Geld kann nur an von Vertragspartnern geschulte Personen gegeben werden und das Angebot ist eine mittlere Katastrophe. Ich bekomme wütende Rückmeldungen darüber, dass es wahnsinnig schwierig ist jemanden zu finden, der diese Leistungen anbietet. Angehörige müssen sich da lange durchfragen. Auf dem Land ist das natürlich noch schwieriger als in Städten.
Wie müsste ein besseres Pflege-System aussehen?
Das System widerspricht unserer gesellschaftlichen Ausrichtung komplett. Wir wollen, dass alle gut ausgebildet sind und arbeiten gehen. Gleichzeitig sollen wir Angehörige zu Hause pflegen. Wie soll das gehen? In den skandinavischen Ländern ist es so, dass Pflege die Aufgabe der Kommune ist. Die Familie hat erst mal nichts damit zu tun. Wenn ich aber für meine Mutter sorgen möchte, dann schließt die Kommune einen Vertrag mit mir und ich werde bezahlt.
Das heißt, die Politik sollte nachbessern?
Vor allem will ich, dass die Leute selbst aktiv werden. Wir selbst müssen sagen, was wir brauchen. Wir müssen uns da, wo wir leben, zusammentun. Wenn ich mit der Nachbarin rede, die auch einen Angehörigen pflegt, stellen wir fest, was fehlt. Dann müssen wir zum Bürgermeister, zum Gemeinderat und zum Wahlkreisabgeordneten gehen und das ansprechen. Dazu sind die doch da. Woher sollten die sonst wissen, was uns belastet?
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