Insektizide:Wie ein Gift in die Supermärkte kam

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Das Insektizid Chlorpyrifos findet sich gelegentlich auf Zitrusfrüchten, die in den deutschen Handekl gelangen.

(Foto: imago/Westend61)
  • Eine schwedische Studie weckt Zweifel an der Sicherheitsbewertung des Insektizids Chlorpyrifos.
  • Die Forscher fanden in den Originaldaten des Herstellers Hinweise darauf, dass der Stoff der Gehirnentwicklung schaden könnte.
  • Trotz der Indizien hat die EU-Kommission die Zulassung von Chlorpyrifos verlängert.
  • Bei Stichproben fanden Prüfer die Substanz an Grapefruits, Orangen und anderen Früchten im Supermarkt, teils auch in Mengen oberhalb der gesetzlichen Grenzwerte.

Von Hanno Charisius

Es kommt nicht oft vor, dass unabhängige Forscher einen Blick auf jene Daten werfen dürfen, mit denen Pestizidhersteller die Bedenkenlosigkeit ihrer Produkte gegenüber den Behörden belegen wollen. Solche Studien werden normalerweise hermetisch weggesperrt, Betriebsgeheimnis. Der Chemiker Axel Mie vom Karolinska Institut in Stockholm hatte in diesem Jahr eine dieser seltenen Gelegenheiten, und das Ergebnis stellt nun nicht nur die Sicherheitsbewertung eines speziell umstrittenen Insektizids infrage, sondern den gesamten Bewertungsprozess, wie er zurzeit in Europa vorgeschrieben ist.

Ausgangspunkt war das Insektizid Chlorpyrifos. In Deutschland ist es seit 2009 nicht mehr auf dem Markt, doch in anderen Ländern wird es noch verwendet. Auf den Schalen von Orangen, Mandarinen und anderen Früchten kommt es auch in die deutschen Supermärkte. Ende November hat die Europäische Kommission die Zulassung für diese Substanz bis zum 31. Januar 2020 verlängert. Das war nur wenige Tage nachdem Mie und zwei Kollegen ihre Entdeckung im Fachjournal Environmental Health veröffentlicht hatten.

Hinweise auf schädliche Wirkung

Ältere epidemiologische Untersuchungen hatten Hinweise darauf geliefert, dass Chlorpyrifos wie ein Nervengift wirkt und beispielsweise die Hirnentwicklung bei Schulkindern beeinträchtigen könnte. Auch Tierversuche wiesen in diese Richtung. Mie machte das stutzig, denn solche Resultate standen im Widerspruch zu den Angaben, die der Hersteller Dow Chemical 1999 in den Zulassungsantrag an die EU geschrieben hatte. Die normalerweise unter Verschluss gehaltenen Rohdaten der Zulassungsstudie bekam Mie dank des schwedischen Informationsfreiheitsgesetzes von einer nationalen Behörde übermittelt und machte sich an die Arbeit.

Dow Chemical hatte die Studie bei einem auf toxikologische Untersuchungen spezialisierten Prüflabor in Auftrag gegeben. Im Ergebnisbericht, der bei der Zulassung berücksichtigt wurde, finden sich keine Anzeichen auf neurologische Effekte bei den untersuchten jungen Ratten. Lediglich Tiere, deren Mütter extreme Chlorpyrifosmengen verabreicht bekamen, wiesen eine höhere Sterblichkeit nach der Geburt auf, entwickelten sich etwas langsamer und hatten etwas kleinere Gehirne. In der Zusammenfassung führten die Industrieforscher die verlangsamte Entwicklung der Tiere auf eine allgemeine Vergiftung zurück, keineswegs auf eine neurologische Wirkung.

Mie und seine Kollegin Christina Rudén von der Stockholm University und Philippe Grandjean von der Harvard School of Public Health kommen in ihrer Analyse der Originaldaten zu einem grundlegend anderen Ergebnis. Sie fanden kleinere Kleinhirne bei jenen Jungratten, deren Muttertiere dem Pestizid ausgesetzt waren. Dieser Effekt war schon bei der niedrigsten getesteten Dosis deutlich. Das gesamte Studiendesign sei nicht geeignet gewesen, um zuverlässig alle Effekte auf die Entwicklung des Gehirns - auch bei Menschen - entdecken zu können.

Das alles hätte bereits im Jahr 1999 jener spanischen Behörde auffallen müssen, die stellvertretend für die EU den Zulassungsantrag von Dow Chemical zu überprüfen hatte. Denn so funktioniert das Zulassungssystem in der EU: Ein Land ist jeweils zuständig für die Risikobewertung eines Wirkstoffes. Bei Glyphosat ist es Deutschland, Chlorpyrifos fällt in spanische Zuständigkeit. Will ein Hersteller einen Pflanzenschutzwirkstoff zulassen, muss er seine Unterlagen beim "berichterstattenden Mitgliedsstaat" einreichen. Dazu zählen auch Studien zur Sicherheit eines Wirkstoffes - die vom Hersteller in Auftrag gegeben werden und nicht etwa von den Behörden. Es ist üblich, dass die Prüfbehörden Zusammenfassungen oder Bewertungen der Antragsteller in ihren Bericht kopieren, so sie die Daten und Schlussfolgerungen für plausibel halten. "Abweichende Bewertungen werden durch eigene Kommentare ausgedrückt", schreibt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) dazu auf seiner Webseite, das an der Beurteilung von Glyphosat beteiligt war.

Wer weiß, ob die Prüfer die Studie damals überhaupt geöffnet haben?

Das prüfende Land schickt schließlich seinen Bericht an die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die erneut prüft und den Bericht zur öffentlichen Diskussion freigibt. Von diesem Zeitpunkt an können sich auch die anderen EU-Mitgliedstaaten einbringen.

Das ist der heute übliche Ablauf. Was 1999 in Spanien geschah, lässt sich kaum rekonstruieren. Die EFSA gab es damals noch nicht. Auf Anfragen der SZ hat die zuständige spanische Behörde nicht geantwortet. Mie kann nur spekulieren: "Die Aufgabe ist gewaltig, Hersteller reichen ja nicht nur eine Studie ein, sondern hundert oder mehr. Um die auf Ungereimtheiten durchzusehen, braucht es Zeit und kompetentes Personal. Wer weiß, ob die 1999 die Studie überhaupt aufgemacht haben. Vielleicht haben sie sich auch auf die Zusammenfassung der Industrie verlassen."

Wie oft es passiert ist, dass sich die Behörden zu sehr auf das Urteil der Industrie verlassen haben, statt sich ein eigenes Bild zu machen, lässt sich ohne umfassenden Einblick in die Originalstudien nicht klären.

Zurzeit wird Chlorpyrifos erneut in der EU geprüft, die Hersteller wollen das Mittel weiter verkaufen. Wieder ist Spanien federführend, doch inzwischen können sich die anderen Mitgliedsstaaten beteiligen. Vom BfR heißt es dazu, man habe den Bericht aus Spanien "auch bezüglich offener Fragen in Bezug auf die mögliche nervenschädigende Wirkung kritisch kommentiert". Dow Agrosciences, so nennt sich das Unternehmen heute, schreibt in einer Stellungnahme an die SZ, man kenne die Studie von Mie und Kollegen. Inhaltlich geht das Unternehmen nicht auf Mies Interpretation der Daten ein. Das Unternehmen weist lediglich jede Anschuldigung, man habe Daten manipuliert oder betrogen "streng zurück".

An Grapefruits und Orangen hafteten häufig Rückstände des Insektizids

Einen solchen Vorwurf haben die drei Forscher in ihrem Fachartikel gar nicht erhoben. Sie verweisen jedoch auf ein Memo der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA aus dem Jahr 2000, in dem von unangebrachter Datenmanipulation die Rede ist. Gibt es nun eine Gefahr für die menschliche Gehirnentwicklung? 2016 prüften Behörden in den Bundesländern etwas mehr als 16 000 Lebensmittelproben auf Chlorpyrifos und die chemisch verwandte Substanz Chlorpyrifos-Methyl. In fast 600 der Proben fanden die Analytiker das Insektizid, in 28 Fällen lagen die Mengen über dem, was als gesetzlich zulässig gilt. Drei Jahre zuvor waren die Prüfer in knapp 15 000 Proben 966 Mal auf das Insektizid gestoßen, allerdings seltener in verbotenen Mengen.

An Grapefruits, Orangen und anderen Citrusfrüchte hafteten 2016 besonders häufig Chlorpyrifos-Rückstände. Auch Obstsorten wie Birnen, Äpfel, Trauben und Bananen waren belastet, genauso wie Rosinen, frische Kräuter und Gemüsesorten.

In einem gemeinsamen Bericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie des BfR hieß es 2017 dazu unter anderem, dass eine "akute Beeinträchtigung der Gesundheit" als möglich erachtet werde. Mie und seine Kollegen sind etwas deutlicher: Sie schreiben, dass bei der aktuellen Belastung durch Chlorpyrifos, die Evidenz in Richtung schädlicher Effekte auf das Nervensystem von Kleinkindern hindeute, einhergehend "mit einem niedrigeren IQ im Schulalter."

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