Süddeutsche Zeitung

Infektionskrankheiten:Immer mehr Fälle von multiresistenter Tuberkulose

  • In Russland könnten schon bald bis zu ein Drittel aller Tuberkulosefälle multiresistent, also mit einer herkömmlichen Therapie nur schwer oder gar nicht mehr in den Griff zu bekommen sein.
  • Experten fordern, erkrankte Patienten noch früher zu erkennen und sie mit einer maßgeschneiderten Therapie zu begleiten, um weitere Resistenzen zu verhindern.
  • Nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation erkranken jedes Jahr etwa zehn Millionen Menschen an Tuberkulose, knapp zwei Millionen Menschen sterben.

Von Felix Hütten

Die multiresistente Tuberkulose ist in Indien, den Philippinen, Russland und Südafrika weiter auf dem Vormarsch. Bis 2040 könnte die Situation insbesondere in Russland weiter außer Kontrolle geraten, warnen Epidemiologen im Fachblatt Lancet Infectious Diseases.

Ein Team von Wissenschaftlern um Aditya Sharma von der US-Seuchenschutzbehörde CDC hat in einem mathematischen Modell mögliche Infektionsverläufe der Tuberkulose in den vier besonders betroffenen Ländern berechnet.

"Vier von fünf Patienten mit multiresistenter Tuberkulose werden nicht behandelt"

Der Studie zufolge könnten in den kommenden Jahren in Russland bis zu einem Drittel aller Tuberkulosefälle multiresistent, also mit einer herkömmlichen Therapie nur schwer oder gar nicht mehr in den Griff zu bekommen sein. In Indien prognostizieren die Forscher eine solche Entwicklung bei mehr als zwölf Prozent der Fälle, bei etwa neun Prozent auf den Philippinen und knapp sechs Prozent in Südafrika.

Die Tuberkulose wird durch Bakterien übertragen und gilt als Armutskrankheit. Die Erreger befallen die Lunge, aber auch andere Organe können betroffen sein. Unterschieden wird zwischen einer klassischen multiresistenten Tuberkulose, kurz MDR und einer extremresistenten Tuberkulose, auch XDR bezeichnet. Während gegen die MDR zwei Standardmedikamente wirkungslos bleiben, kann die XDR nur noch mit wenigen, aggressiven Medikamenten behandelt werden. Etwa 40 Prozent aller MDR-Patienten und 60 Prozent der XDR-Patienten sterben.

Als Standardtherapie werden Antibiotika eingesetzt, je früher die Krankheit erkannt wird, desto besser. Besonders in Ländern mit marodem Gesundheitssystem fehlt es jedoch an Untersuchungstechnik und Medikamenten. "Vier von fünf Patienten mit multiresistenter Tuberkulose werden nicht behandelt", sagt Paul Jensen, Direktor der internationalen Vereinigung gegen Tuberkulose und Lungenleiden. "Das ist eine Krise."

Diese Krise wird, so vermuten es die Forscher der Lancet-Studie, vor allem durch zahlreiche, eigentlich vermeidbare Mensch-zu-Mensch-Infektionen verstärkt - also durch Infektionen, die man mit der richtigen Therapie gut in den Griff bekommen könnte. Noch. Die große Sorge der Infektionsmedizin sind totale Resistenzen, also Tuberkulose-Erreger, gegen die kein bislang bekanntes Medikament mehr anschlägt.

Um dieses Worst-Case-Szenario zu verhindern, fordern Experten, erkrankte Patienten noch früher zu erkennen und sie mit einer maßgeschneiderten Therapie zu begleiten, bis die Erkrankung vollständig überstanden ist. Denn ein unbehandelter Patient mit offener Tuberkulose steckt innerhalb eines Jahres im Durchschnitt zehn Menschen an - über Husten, Niesen oder Sprechen. Daher müssen insbesondere Patienten mit multiresistenten Erregern schnell und konsequent isoliert werden, "lieber zu früh und zu oft", heißt es in der Tuberkulosemedizin. Dafür aber braucht es Platz in Klinken und die Kooperation der Patienten.

Doch selbst wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, bleiben fehlende oder falsche Medikamente weiterhin Hauptursache der Multiresistenzen. Sie entstehen, wenn Patienten die verordneten Antibiotika nicht vollständig oder unregelmäßig einnehmen oder eine Therapie gar frühzeitig abbrechen - weil sie sich Medikamente nicht mehr leisten können oder diese schlicht nicht ausreichend vorhanden sind. Die Folgen sind verheerend: Nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation erkranken jedes Jahr etwa zehn Millionen Menschen an Tuberkulose, knapp zwei Millionen Menschen sterben.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2017/fehu
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