Infektionskrankheit:Die Heimtücke von Hepatitis E

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Viele Menschen infizieren sich mit Hepatitis E, aber nur wenige werden schwer krank. Mediziner streiten nun: Wieviel Aufwand ist für den Infektionsschutz gerechtfertigt?

Von Kai Kupferschmidt

Zehn Monate lang hatte Holger Stadler (Name geändert) auf ein neues Herz gewartet. Als die Ärzte ihm endlich ein passendes Spenderorgan einpflanzten, begann sein Körper, es abzustoßen. Daher wurde auch sein Blutplasma durch das von Spendern ersetzt. Um jene Antikörper zu entfernen, die das neue Herz als fremd erkannten. Doch drei Jahre später ist klar, dass Stadler mit dem Blutplasma noch etwas anderes übertragen wurde: Hepatitis E. Das Virus vermehrt sich seitdem in seiner Leber. Stadlers neues Herz pumpt jetzt kräftig, dafür droht seine Leber zu versagen. "Damit klarzukommen, war nicht einfach", erinnert sich der ehemalige Handwerker.

Bis vor wenigen Jahren wussten auch Mediziner nicht, dass es Patienten wie Holger Stadler überhaupt gibt. Hepatitis E galt in Deutschland als exotische Erkrankung, die Reisende aus Indien oder Afrika mitbringen. Inzwischen wissen Forscher, dass sich jedes Jahr schätzungsweise 300 000 Menschen in Deutschland mit dem Virus infizieren, am häufigsten vermutlich durch den Verzehr von Schweinefleisch. "Die meisten der Infizierten merken davon gar nichts", sagt der Internist Sven Pischke vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Einige der Betroffenen leiden ein paar Tage lang unter Fieber, Müdigkeit und Gelbsucht. Nur für wenige ist die Erkrankung lebensgefährlich, so wie für Holger Stadler. Der 58-Jährige nimmt Medikamente ein, die sein Immunsystem dämpfen, damit sein Herz nicht wieder abgestoßen wird. Mit der geschwächten Körperabwehr ist er jedoch auch nicht in der Lage, das Hepatitis E-Virus zu besiegen. "Wird so eine chronische Hepatitis E nicht therapiert, führt das erst zu einer Leberfibrose, dann zur Leberzirrhose, dann zum Tod", sagt Sven Pischke, der Stadler betreut.

Mit modernen Methoden finden Forscher immer mehr Erreger, die nur bei wenigen Patienten eine schwere Erkrankung auslösen. Diese Keime sind so etwas wie die dunkle Materie der Infektionsforschung. Viele von ihnen sind weit verbreitet. Die meisten Menschen, die sich zum Beispiel mit Denguefieber oder Gelbfieber infizieren, bekommen davon nichts mit. Und nur etwa zehn Prozent derjenigen, die Chlamydien in sich tragen, leiden unter Symptomen. Jedes Jahr infizieren sich tausende Menschen mit ihnen, ohne krank zu werden.

Und Hepatitis E stellt in Deutschland ein besonders drastisches Beispiel dar, weil das Virus besonders viele Menschen infiziert und besonders selten zu einer Erkrankung führt. Doch wie geht man mit einem Virus um, das Hunderttausende ohne Konsequenzen befällt und für einige wenige den Tod bedeuten kann? Müssen Blutspenden darauf untersucht werden? Diesen Fragen müssen sich Ärzte und Ethiker jetzt stellen.

Der russische Virologe nahm verdünnte Stuhlproben infizierter Soldaten zu sich

Die Fragen sind neu, das Virus dagegen nicht. 1978 brach im Kaschmirtal eine unbekannte Krankheit aus. Fast 300 Menschen litten an einer Leberentzündung. Vier Männer und sechs schwangere Frauen starben. Der Erreger schien durchs Wasser übertragen zu werden, im Blut der Erkrankten fanden sich keine Hinweise auf Hepatitis A oder B. Offenbar war ein anderes Virus die Ursache. Es folgten weitere Ausbrüche: Zehntausende erkrankten, Tausende starben.

Erst einige Jahre später konnte der russische Forscher Mikhail Balayan den Erreger in einem gewagten Selbstversuch nachweisen. Balayan verdünnte die Stuhlproben von neun russischen Soldaten, die in Afghanistan erkrankt waren, und nahm sie zu sich. Einen Monat später entwickelte er eine Leberentzündung. In seinem Stuhl fand er Viruspartikel: Hepatitis E. In den folgenden 20 Jahren wurde das Virus als Erreger angesehen, der durch verunreinigtes Wasser übertragen wird und in Asien und Afrika große Ausbrüche verursacht. "E" stand für Epidemien, für exotisch.

Doch 1997 entdeckten US-Forscher bei Schweinen eine neue Variante von Hepatitis E: Nach Typ 1 und Typ 2 hatten sie nun Genotyp 3 gefunden. Anschließend fanden sie das Virus in einem europäischen Land nach dem anderen, ebenfalls in Schweineherden. Und nicht nur das: Antikörper im Blut zeigten, dass ein Großteil der Bevölkerung bereits eine Infektion mit dem Erreger durchgemacht hat. Es war ein völlig neues Gesicht der Hepatitis E. Doch schien es ein freundlicheres Gesicht zu sein als jenes früherer Ausbrüche. Denn die meisten Menschen wurden das Virus offenbar innerhalb weniger Tage wieder los, ohne etwas davon mitzubekommen.

Im Jahr 2008 änderte sich das Bild. Französische Forscher publizierten damals im New England Journal of Medicine eine beunruhigende Entdeckung: Sie hatten fast 300 Transplantationspatienten auf Hepatitis E untersucht. Sechs von ihnen hatten eine kurze Hepatitis E-Infektion durchgemacht, was nicht überraschte. Doch acht weitere Patienten waren mit den Viren infiziert und wurden sie nicht wieder los.

Heiner Wedemeyer wollte das zunächst nicht glauben. "Wir sind eines der größten Transplantationszentren Europas", sagte der Leberspezialist an der Medizinischen Hochschule Hannover. "So eine Entwicklung hätte uns doch auffallen müssen." Zwei Wochen später fand Wedemeyer den ersten Patienten mit chronischer Hepatitis E, wenig später den zweiten. "Wir haben vorher nicht richtig hingeguckt", sagt er heute. Seitdem sammeln Ärzte wie Wedemeyer und Pischke solche Patientengeschichten: Ein Flüchtling aus Syrien, der an Leukämie erkrankt und bei einer Stammzelltransplantation mit Hepatitis E infiziert wird. Eine Krebspatientin, die eine Bluttransfusion erhält und den Erreger seither in sich trägt. Und Herztransplantierte wie Holger Stadler.

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Wie sich die Gesellschaft in Zukunft vor diesem Virus schützen will, diskutieren Mediziner derzeit. Vor allem auch, wie die Gesellschaft besonders gefährdete Patienten mit geschwächtem Immunsystem vor einer Infektion bewahren kann. Es ist eine Debatte, die hinter den Kulissen tobt, an Kliniken, in Gremien und Arbeitskreisen.

Englische Forscher haben 2014 eine Studie veröffentlicht, in der sie 225 000 Blutspenden rückwirkend untersuchten. Wie sich herausstellte, hatten 79 der Spender Hepatitis E im Blut, 18 Empfänger hatten sich vermutlich damit infiziert. In England werden jedes Jahr etwa 1200 Blutprodukte freigegeben, die Hepatitis E enthalten, schätzen die Studienautoren. Trotzdem sei die Krankheitslast durch Hepatitis E nicht so groß, dass ein Screening dringend nötig sei, schreiben die Forscher. So ähnlich sieht es auch der Arbeitskreis Blut, das Gremium, das in Deutschland entscheidet, auf welche Erreger Blutspenden getestet werden müssen. 2015 veröffentlichten sie eine Stellungnahme zu Hepatitis E. Das Fazit: Das Virus sei in der Regel so harmlos, dass sich Aufwand und Kosten nicht lohnen würden, alle Spenden zu testen. "In den allermeisten Fällen passiert nach einer Infektion gar nichts", sagt Rainer Seitz, Chef der Transfusionsmedizin am Paul-Ehrlich-Institut.

Tatsächlich müssten sich die meisten Menschen wegen Hepatitis E keine Sorgen machen, sagt auch Wedemeyer. Aber Menschen mit einem schwachen Immunsystem seien durchaus gefährdet. Und diese Patienten bekommen besonders oft Bluttransfusionen. "Es ist unsere Pflicht, diese zu schützen", sagt er. Irland hat zum Beispiel damit begonnen, alle Blutprodukte auf Hepatitis E zu untersuchen - zunächst für einen Zeitraum von drei Jahren. In anderen Ländern wird darüber diskutiert. Auch in Gremien wie dem Arbeitskreis Blut ist die Diskussion offenbar nicht abgeschlossen. "Wir müssen herausfinden, welche Patienten einen besonderen Schutz brauchen und dann sicher stellen, dass diese nur getestete Produkte bekommen", sagt Seitz.

Eine nüchterne Abwägung fällt auch deshalb so schwer, weil niemand mit Sicherheit sagen kann, wie viele Menschen an Hepatitis E erkranken. Schaut man sich die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) der letzten Jahre an, scheint die Anzahl der Fälle gerade dramatisch zuzunehmen. Im Jahr 2004 registrierte das RKI 53 Fälle. 2014 waren es 670 Fälle, 2015 sogar 1265. Tatsächlich dürften die steigenden Zahlen vor allem damit zu tun haben, dass Ärzte bestimmte Patientengruppen zunehmend auf Hepatitis E testen. "Das lief Jahrzehnte lang völlig unter dem Radar", sagt Jürgen Wenzel, der das Konsiliarlabor für Hepatitis E in Regensburg leitet. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, sei kaum abzuschätzen.

Und noch etwas macht den Forschern sehr zu schaffen: Hepatitis E ist eine Krankheit an der Schnittstelle von Tieren und Menschen. Für ein besseres Verständnis des Erregers müssen Mediziner mit Tierärzten und Experten für Lebensmittelsicherheit zusammenarbeiten. Unter dem Schlagwort "One Health" werben Infektionsforscher seit langem für diese interdisziplinäre Kooperation. Denn ein Erreger wie Hepatitis E kann nicht allein im Krankenhaus bekämpft werden. Man muss auch im Schweinestall oder im Supermarktregal gegen ihn vorgehen.

Gleichzeitig liefert das ein starkes Argument gegen einen Test für Blutspenden: Selbst wenn Transfusionen kein Risiko mehr darstellen, können Menschen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit woanders anstecken. Am Wichtigsten sei, die Ansteckung mit Hepatitis E generell zu verhindern, sagt daher Hans Zaaijer vom niederländischen Blutspendedienst Sanquin: "Essen und Wasser sollten frei von diesem Virus sein."

Doch das ist eine enorme Herausforderung. Zum einen ist noch immer unklar, wie sich das Virus ausbreitet. Bekannt ist, dass der Erreger oft in Schweinen vorkommt und dass manche Tiere das Virus im Körper tragen, wenn sie geschlachtet werden. Der niederländische Veterinärvirologe Wim van der Poel hat zwischen 2010 und 2015 die genetische Sequenz von Hepatitis E bei Tieren und Menschen verglichen.

Wenn ein Mensch sich durch eine Bluttransfusion angesteckt hatte, wurde das Erbgut des Virus sequenziert und in einer Datenbank nach der ähnlichsten genetischen Sequenz gesucht. "Das war immer ein Schweinevirus aus der gleichen Gegend", sagt er. Die Blutspender hatten sich also vermutlich über das Fleisch infiziert. In einer Region in Südfrankreich konnten Infektionen sogar auf ein bestimmtes Lebensmittel zurückgeführt werden, eine Wurst namens Figatellu, die aus roher Schweineleber hergestellt wird.

20 Minuten Erhitzen bei 70 Grad zerstören den Erreger im Schweinefleisch

Forscher suchen dennoch weitere Lebensmittel, die das Virus verbreiten könnten. Reimar Johne am Bundesinstitut für Risikobewertung zum Beispiel. Das ist nicht leicht, weil es bisher keine gute Möglichkeit gibt, Hepatitis E im Labor zu vermehren. Johne kann also nur das Erbgut des Virus nachweisen. "Das sind oft winzige Mengen", sagt Johne. Er möchte vor allem herausfinden, wie sich Menschen schützen können. 20 Minuten Erhitzen bei 70 Grad zerstören den Erreger im Schweinefleisch zuverlässig. Aber was ist mit Trocknen, Räuchern, Pökeln? In Leberwurst hat der Forscher das Virus nachweisen können. "Vermutlich kommt es auch in rohem Hackfleisch vor. Ob es aber in einer Salami noch infektiös ist, wissen wir nicht", sagt Johne.

Tiermediziner untersuchen unterdessen, wie sich der Erreger in Schweineherden ausbreitet. Offenbar infizieren sich die meisten Ferkel drei bis sechs Monate nach der Geburt mit dem Virus, wenn der Schutz durch die mütterlichen Antikörper nachlässt. Der Erreger macht die Tiere allerdings nicht krank. Darum haben Bauern wenig Interesse daran, die Seuche zu bekämpfen.

Dabei gäbe es Möglichkeiten. So hat ein chinesisches Unternehmen einen Impfstoff namens Hecolin entwickelt, der Menschen vor Hepatitis E schützt. Hecolin hatte sich in einer Studie an mehr als 100 000 Menschen bewährt und wurde 2011 zugelassen. In Ländern, in denen die aggressiveren Typen 1 und 2 gefährliche Ausbrüche verursachen, ist die Impfung von Menschen sinnvoll, sagt Zaajer. In Europa käme so ein Impfstoff eher für Schweine infrage.

Wenn allerdings nicht alle Tiere konsequent geimpft werden, breitet sich das Virus weiter in den Herden aus, nur langsamer als zuvor. Dann könnten Tiere später im Leben infiziert werden und am Ende mehr Schweine das Virus in sich tragen, wenn sie das Schlachtalter erreichen. Dann würde das Risiko für Menschen sogar steigen, sagt Zaaijer.

In der Praxis ist das hehre Konzept der "One Health" daher schwer umzusetzen. Und Medizinern bleibt nichts anderes übrig, als das Virus im Krankenhaus zu bekämpfen. Zugelassene Medikamente gibt es bisher nicht. Bei manchen Patienten lässt sich jedoch das Immunsystem stärken, so dass der Körper das Virus aus eigener Kraft besiegt. Im Fall von Holger Stadler könnte das allerdings dazu führen, dass der Körper auch das transplantierte Organ wieder abstößt. Hier bleibt Ärzten nur die Möglichkeit, auf Ribavarin auszuweichen, ein Medikament, das eigentlich gegen Hepatitis C eingesetzt wird. Auch Holger Stadler nimmt das Medikament ein. Jeden Tag schluckt er zwei Pillen. So wollen die Ärzte nun das Virus besiegen. Sollte das nicht gelingen, könnte Stadler nach dem neuen Herz auch eine neue Leber brauchen.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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