Individuelle Gesundheitsleistungen "IGeL":Geschäftssinn schlägt Fürsorge

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Etwa 1,3 Milliarden Euro im Jahr setzen die Ärzte nach Schätzungen der Krankenkassen mit den individuellen Gesundheitsleistungen um (Foto: imago/MITO)

Wenn der Arzt gegen Geld bestimmte Behandlungen anpreist, sollten Patienten hellhörig werden. Die meisten "individuellen Gesundheitsleistungen" sind unnütz. Manche sind sogar schädlich. Eine einfache Regel hilt bei der Orientierung.

Kommentar von Guido Bohsem

In der Gesundheitspolitik dreht sich ziemlich viel um den "mündigen Patienten". Besonders oft taucht er in den Reden von Politikern oder Vorträgen von Kassenfunktionären auf. Da heißt es dann, der mündige Patient sollte das beurteilen, der mündige Patient könne dies entscheiden und der mündige Patient wisse genau, was wovon zu halten sei. Die Ansprüche an den mündigen Patienten sind so hoch, man könnte auf die Idee kommen, hier gehe es um eine Art universalgebildeten Hobby-Arzt mit kaltblütigem Verhandlungsgeschick.

In der realen Realität verirrt sich dieses Super-Wesen nur äußerst selten in die Arztpraxen des Landes. Wie denn auch? Wer sich schon mal auf eine kritische Diskussion mit seinem Hausarzt, Urologen oder Gynäkologen eingelassen hat, weiß genau: Ein, zwei angelesene Argumente lassen sich vielleicht noch austauschen. Doch dann ist dem Mediziner beim besten Willen nicht mehr beizukommen.

Viele fangen aus Respekt vor dem Berufsstand gar nicht erst zu diskutieren an. Die Doktorin oder der Doktor haben schließlich studiert, verfügen über lange Berufserfahrung und haben auch kein Interesse daran, ihren Patienten Schaden zuzufügen. Trotzdem sollten sich auch medizinische Laien nicht darauf verlassen, dass wirklich alles, was der Arzt empfiehlt, auch wirklich sinnvoll ist. Denn womöglich hat der Arzt ein handfestes wirtschaftliches Interesse, seinen Patienten gegen Geld Leistungen anzubieten, die medizinisch nicht wirklich notwendig sind.

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Messung des Augeninnendrucks, professionelle Zahnreinigung - diese und andere Zusatzleistungen sind ein großes Geschäft für Ärzte und Industrie. 37 der Angebote hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung untersucht und einen wirklichen Nutzen nur bei vier davon feststellen können.

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Mancher Patient wird vom Arzt zur Zusatzleistung genötigt

Die Rede ist von den sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen, IGeL. Wie viele es gibt, kann man nur vermuten. Hundert, vielleicht zweihundert. Etwa 1,3 Milliarden Euro setzen die Ärzte nach Schätzungen der Krankenkassen damit im Jahr um. Ein großes Geschäft nicht nur für die Ärzte, sondern auch für die Industriebetriebe, die passende Instrumente verkaufen. 37 der Angebote hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung untersucht und einen wirklichen Nutzen nur bei vier davon feststellen können. Bei den übrigen gab es keine Erkenntnis über einen Nutzen, einige könnten den Patienten sogar eher schädigen.

Dieses Vorgehen ist nicht verboten, wohlgemerkt. Doch legen manche Mediziner ihren Patienten die kostenpflichtige Zusatzleistung so sehr ans Herz, dass viele sich regelrecht zur Anwendung genötigt fühlen. Wenn der Geschäftssinn über der Fürsorge rangiert, läuft etwas ganz falsch. Ein solches Verhalten darf sich nicht breitmachen, denn ansonsten verlieren die Patienten das Vertrauen in ihre Ärzte und leider nicht nur in die, die mit IGeL hausieren gehen.

Das Erfreuliche ist, dass man auch ohne große medizinische Grundkenntnisse in Sachen IGeL ganz gut klarkommen kann. Es reicht eine einfache Faustregel: Eine ärztliche Leistung, die gegen Geld angeboten wird, ist niemals dringlich. Niemals. Jeder Patient hat also immer Zeit, die Praxis zu verlassen, darüber zu schlafen und sich in Ruhe über das Angebot zu informieren und dann zu entscheiden - ohne Druck und ohne Überforderung.

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