Süddeutsche Zeitung

Corona-Impfung:"Ich halte den Druck für wenig hilfreich"

Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission, will sich nicht den Forderungen aus der Politik beugen und die Impfung von Kindern generell empfehlen. Könnte sich das demnächst ändern?

Interview von Werner Bartens

Wer mitbekommt, wie sich Markus Söder (CSU), Michael Müller (SPD), Stephan Weil (SPD) und andere Ministerpräsidenten an Stiko-Chef Thomas Mertens abarbeiten, kann sich an Kafka erinnert fühlen. Die Politiker rütteln, schütteln, drohen und charmieren, drängen und quengeln, doch Mertens bleibt provozierend freundlich und gelassen. Was soll der 71-jährige Virologe auch tun, als sich auf die Wissenschaft zu berufen? Etliche Politiker und andere ungeduldige Zeitgenossen vermitteln jedoch den Eindruck, Mertens würde - wie Kafkas Türsteher dem Mann vom Lande in der Erzählung "Vor dem Gesetz" den Eintritt verwehrt - einzig und allein ihnen den Wunsch abschlagen, endlich eine Empfehlung in ihrem Sinne auszusprechen und die generelle Impfung von Kindern und Jugendlichen auch unter 16 Jahren vorschlagen.

SZ: Herr Mertens, was halten Sie von den Forderungen der Ministerpräsidenten, Kinder ab zwölf Jahren jetzt schon zu impfen?

Thomas Mertens: Soweit ich es verstehe, soll den Kindern ab zwölf Jahren ein verstärktes Impfangebot gemacht werden. Das ist doch keine grundsätzliche Änderung der derzeitigen Situation. Die Impfung der Kinder in dieser Altersgruppe ist auch jetzt möglich. Die Politik kann das Angebot im Sinne einer allgemeinen Vorsorgemaßnahme durchaus machen, die ja auch nicht evidenzbasiert sein muss.

Kommt Ihnen das angesichts der Forderungen von Ministerpräsident Markus Söder vor wenigen Wochen nicht wie ein Déjà-vu vor?

Es haben sich mittlerweile viele Politiker mit unterschiedlichen Nuancen geäußert. Sie können sich alle darauf verlassen, dass die Stiko ihrer Verantwortung sehr bewusst ist und mit Hochdruck an einer aktualisierten, evidenzbasierten Empfehlung arbeitet, ohne dass ich das Ergebnis heute vorwegnehmen kann.

Was entgegnen Sie auf die Forderung, Kinder möglichst schnell impfen zu lassen?

Ich bin besorgt, dass es sich um eine Stellvertreterdiskussion handelt, die von unserem eigentlichen Problem wegführt. Es wäre entscheidend, mit dem reichlich verfügbaren Impfstoff die 18- bis 59-Jährigen vollständig zu impfen. Es ist sehr klar, dass davon der Verlauf der "nächsten Welle" abhängt und nur sehr marginal von der Impfung der Kinder. Es wäre weiter wichtig, den Maßnahmenkatalog der S3-Leitlinie, die von sehr vielen wissenschaftlichen Fachgesellschaften getragen ist, an den Schulen umzusetzen, um den Schulunterricht sicherzustellen. Man muss bedenken, dass etwa 9,1 Millionen Kinder unter zwölf Jahren nicht geimpft werden können, also alle Kinder in Kinderkrippen, Kindergärten, Grundschulen und den ersten Jahren der weiterführenden Schulen. Umso wichtiger ist es, den Maßnahmenkatalog zur Sicherung der Schulen umzusetzen.

Ändert die Verbreitung der Delta-Variante oder das Vorkommen von Impfdurchbrüchen die Einschätzung der Stiko oder lässt die Kinderimpfung dringlicher erscheinen?

Das wäre eigentlich vor allem dann der Fall, wenn die Delta-Variante Kinder kränker machen würde als die bisherigen Virusvarianten. Dafür gibt es derzeit keine Evidenz.

Auf welche Daten und Quellen berufen Sie sich, wenn die Stiko die Kinderimpfung ab zwölf Jahren noch nicht empfiehlt, und welche Daten wären stattdessen notwendig für eine solche Empfehlung?

Das sind vorwiegend drei Fragestellungen, zu denen wir fortlaufend alle neuen Erkenntnisse bewerten: Welche Rolle spielt das Virus für die Gesundheit/Erkrankungen der Kinder? Wie sicher ist der Impfstoff in der Altersgruppe, wenn die Krankheitslast nicht hoch ist? Welche Wirkung kann man von der Impfung dieser Altersgruppe auf den weiteren Verlauf der Pandemie in Deutschland erwarten, natürlich einschließlich der Auswirkungen auf die Kinder? Zu allen drei Fragen gibt es neuere Daten, die allerdings hinsichtlich der ersten beiden Fragen nur teilweise Antworten geben - im Gegensatz zu dem, was manchmal öffentlich geäußert wird. Ich kann Ihnen versichern, dass die Stiko mit den Mitarbeitern des RKI mit Hochdruck diese Analysen und Bewertungen durchführen und sich ihrer Verantwortung dabei sehr bewusst sind.

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Können Sie einen zeitlichen Horizont geben?

Beste verfügbare Evidenz bedeutet, dass man nach allem sucht, was man weiß, und auch nach dem, was man nicht weiß. Das ist die Aufgabe der Stiko, und das müssen und werden wir weiterhin tun. Ich hoffe, dass wir in den nächsten zehn Tagen eine aktualisierte Empfehlung fertigstellen können, ohne dass ich das Ergebnis vorwegnehmen kann.

Fühlen Sie sich angesichts des öffentlichen und politischen Drucks in die Enge getrieben?

Ich halte den politischen Druck für wenig hilfreich. Weder für die Arbeit der Stiko noch hinsichtlich der sprichwörtlichen Verunsicherung der Menschen im Land. Der scheinbar hohe zeitliche Druck, der damit erzeugt wird, ist vielfach sicher so nicht gerechtfertigt.

Wie reagieren Sie darauf, dass auch immer mehr ärztliche Kollegen und Fachverbände die Kinder-Impfung empfehlen?

Gelassen - was sollte ich machen?

In welchen anderen Ländern werden Kinder ab zwölf Jahren geimpft, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage - und wie begründen die Kollegen dort das Vorgehen, die Evidenzlage ist ja weltweit gleich?

Entscheidungen werden überall - auch bei uns - zum Teil evidenzbasiert und zum Teil politisch getroffen. Es ist durchaus möglich und statthaft, dass die Politik Entscheidungen trifft mit Hinweis auf eine gesundheitliche Vorsorge, die nicht unbedingt evidenzbasiert sein müssen. Wichtig ist, dies klar zu sagen.

Was könnte die gegenwärtige - aufgeheizte - Debatte entschärfen?

Mehr ruhige Aktivität, weniger allgemeine Aufgeregtheit und Hektik mit fraglichem Sinn und Nutzen und mehr Rationalität bei den Vorbereitungen, Entscheidungen und Umsetzungen von sinnvollen Maßnahmen.

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